Entscheidend ist die neue Erkenntnis, unsere kulturelle Lebensform sei durch und durch der für die Evolution wirksame wesentliche Faktor. Das heisst zunächst, dass in der besonderen Evolution des Menschen nicht in erster Linie die Übertragung von erblichen Mutationen der Keimanlage die wichtigsten Veränderungen bewirkt, sondern dass die geschichtliche Tradition durch unsere erlenten Kommunikationsweisen die Weitergabe von Neuerschafftem leistet. Die Genetiker selber sprechen von “sozialer Vererbung” und betonen, dass deren Wirksamkeit den Gang der natürlichen, der Vererbung von Keimveränderung bei weitem übertrifft. Soziale Vererbung ist das Instrument einer beschleunigten Evolution von unerhörtem Ausmaß. Durch die Intensivierung der Kontakte, der Publizistik, der Schulung, der Wirtschaft wird die Zeitspanne zwischen tief eingreifenden Neuerfindungen technischer oder künstlersicher Art immer kürzer – ein Phänomen, das zunächst einfach festgestellt werden muss, ohne dass wir irgendeine Wertung an diese Aussage knüpfen. …

Was wir als das Klima eines Humanismus am Anfang dieser Darstellung zu erfassen versuchten, umgibt den Menschen mit einer vollen Welt der Sinne, es schenkt ihm nicht nur die Großtaten der Abstraktion, sondern auch das tönende und farbige Reich der Qualitäten, in dem das Leben der Gefühle gedeiht. Volles Menschentum entsteht immer nur, wo die Quellen dieser ursprünglichsten Weltsicht lebendig bleiben. Ein solche Gesinnung findet ihre Kraft im Durchhalten, Hoffnung und Zuversicht nicht in einem Erdzeitdenken, wie es uns heute vorgeschlagen wird – in der Zeitrechnung von Jahrmillionen, mit denen wir wohl wissenschaftlich operieren, aber nicht erlebend umgehen können. Hier liegen, wir mir scheint, die Grenzen eines Transhumanismus, wie ihn Julian Huxley verkündet, aber auch der Zukunftsbilder, wie sie Teilhard de Chardin entworfen hat. Was uns Kraft und Willen gibt, was uns in Freude und Leid bewegt, ist ein Zeiterleben, das von der Jugend bis ins Alter seinen Rhythmus wechselt und im historischen Raum der überschaubaren Generationen zu Hause ist. Keine Erdgeschichte, wie bedeutungsvoll jedes Wissen um sie auch ist, kann an die Stelle des menschlichen Geschichtsbildes treten, das vom wirklichen Durchleben sein Zeitmaß bekommt. 

Quelle: Adolf Portmann – Naturwissenschaft und Humanismus

Ein Gedanke zu „Naturwissenschaft und Humanismus (Adolf Portmann)“
  1. "Wie bei allen Lebewesen, so hängt auch das Gedeihen des Menschen in erster Linie davon ab, dass die Auslese nach den Naturgesetzen sich vollzieht. Diese Gesetze aber wollen den Wettstreit. Nur auf dem Wege des Wettbewerbs, der sich überwiegend auf wirtschaftlichem Gebiete abspielt, kann es zur förderlichen Entwicklung, zur Hochzucht kommen. Wer darum die Zuchtgesetze der Natur in ihrer vollen, wundertätigen Wirksamkeit erhalten will, muss die Wirtschaftsordnung darauf anlegen, dass sich der Wettbewerb auch wirklich so abspielt, wie es die Natur will, d. h. mit der von ihr gelieferten Ausrüstung, unter gänzlicher Ausschaltung von Vorrechten. Der Erfolg des Wettstreites muss ausschließlich von angeborenen Eigenschaften bedingt sein, denn nur so wird die Ursache des Erfolgs auf die Nachkommen vererbt und zur allgemeinen Menscheneigenschaft. Nicht dem Geld, nicht verbrieften Vorrechten, sondern der Tüchtigkeit, der Kraft, der Liebe, der Weisheit der Eltern müssen die Kinder ihre Erfolge verdanken. Dann darf man hoffen, dass mit der Zeit die Menschheit von all dem Minderwertigen erlöst werden wird, mit dem die seit Jahrtausenden vom Geld und Vorrecht geleitete Fehlzucht sie belastet hat, dass die Herrschaft den Händen der Bevorrechteten entrissen und die Menschheit unter der Führung der Edelsten den schon lange unterbrochenen Aufstieg zu göttlichen Zielen wieder aufnehmen wird."

    Silvio Gesell (Vorwort zur 3. Auflage der Natürlichen Wirtschaftsordnung, 1918)

    Erst wenn man das verstanden hat, kann man mit dem Denken anfangen:

    http://opium-des-volkes.blogspot.de/2014/11/meinung-und-wissen.html

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