Von Ralf Keuper

In den 1980er Jahren setzte sich der Privatgelehrte Jost Herbig in seinen Büchern Im Anfang war das Wort. Die Evolution des Menschlichen und Nahrung für die Götter kritisch mit der Evolutionsbiologie und ihren Vertretern auseinander. Für Herbig sind Kooperation und das friedliche Miteinander, und nicht Rivalität und Krieg, für den Erfolg der menschlichen Spezies verantwortlich:

Soziale Ordnungssysteme, die das Zusammenleben von Menschen regeln, Technik, Ökonomie, Moral und Religion wurden von Darwin ausschließlich unter dem eigenen Gesichtspunkt betrachtet, ob sie der Gruppe in der Rivalität mit ihren Nachbarn Überlegenheit verschaffen oder nicht. “Wenn ein Stamm viele Mitglieder besitzt, die aus Patriotismus, Treue und Gehorsam, Mut und Sympathie stets bereitwillig andern helfen und sich für das allgemein Wohl opfern, so wird er über andere Völker den Sieg davontragen”, hatte Darwin durchaus richtig formuliert. Das Wichtigste hat er vergessen: Zu untersuchen, welche Rolle Rivalität und Stammeskrieg als Selektionsfaktoren gespielt haben. Angesichts des “Daseinskampfes” der Staaten im zeitgenössischen Europa sowie des verzweifelten und vergeblichen Kampfes der Wilden gegen das Vordringen der überlegenen Europäer erschien das selbstverständlich. Die menschliche Evolution wurde so oft auf innerartliche Konkurrenz zwischen verschiedenen Menschengruppen zurückgeführt. Und in dieser extrem verengten Perspektive schien die gesamte kulturelle Evolution nur unter dem Gesichtspunkt bemerkenswert, ob Neuerungen in der Rivalität zwischen Menschengruppen von Vorteil waren oder nicht (in: Im Anfang war das Wort)

Die kulturelle Evolution hat laut Herbig eben auch dazu geführt, dass die Menschen sich über rein biologische Einflussfaktoren erheben und nach neuen Formen des Zusammenlebens suchen konnten:

Anstatt im Wilden den verhinderten Bourgeois zu sehen, hätte man jene letzte Menschen, die noch im vergangenen Jahrhundert ein Leben wie in der Steinzeit führten, als legitime Abkömmlinge der gleichen Art betrachten müssen, der auch wir angehören. Wer jedoch wie Darwin in seinem Werk über die Abstammung des Menschen die “tieferstehenden Rassen” lediglich als Objekte für kolonialistische Unterwerfung durch “zivilisierte Völker” sieht, wir nie die gesellschaftlich bedingte Relativität des eigenen Weltbildes durchschauen. Er wird daher die Gesellschaft und soziale Phänomene stets als abhängige Größen eines postulierten evolutionären Dauerkampfes zwischen verschiedenen Menschengruppen betrachten, in denen die “höhere” die “niedere” verdrängt. Und damit wird er das wichtigste Ergebnis der menschlichen Evolution, die Entstehung eines Bewusstseins, das die Bedingungen der eigenen Existenz reflektiert, um sie nach menschengeschaffenen Normen zu gestalten, ganz einfach übersehen (ebd.).

Von besonderer Bedeutung ist für Herbig, die Fähigkeit des Menschen, u.a. durch den Einsatz von Werkzeugen, Stilmerkmale zu bilden:

Die Fähigkeit, Stilmerkmale zu bilden und weiterzugeben, ist nicht aus einem willkürlichen angeborenen Widerwillen gegenüber Veränderung entstanden, sondern aus sozialer Notwendigkeit – aus der Notwendigkeit nämlich, den Zusammenhalt einer Gemeinschaft von Menschen, der nicht durch angeborene Verhaltensprogramme gesichert ist, durch gemeinsame kulturelle Werte, durch verbindliche Normen und Tradition zu sichern. Seltsamerweise taucht Stilbildung evolutionär erst in dem Augenblick auf, als der Mensch die Grenzen jenes von der Natur vorgegebenen Traditionalismus überwand, der, .., die Werkzeugherstellung während des größeren Teils der Menschheitsgeschichte als ein eher zoologisches Phänomen erscheinen lässt (ebd.).

Innovation und Tradition gehen bei der Evolution des Menschlichen Hand in Hand:

Erst durch die innovative Fähigkeit, die unsere Art in die Lage versetzt hat, die Jäger- und Sammlerhorde zur Industriegesellschaft weiterzuentwickeln, konnte sich auch dieser stilistische Traditionalismus entwickeln. Der wahrhaftig traditionsgebundene Homo erectus kannte keinen Stil, und sein Standardwerkzeug, der Faustkeil, war ausschließlich funktional. Unser Traditionalismus ist, so paradox es klingt, nur die Kehrseite unserer Innovationsfähigkeit. Beide Fähigkeiten, Veränderung und Bewahrung, sind zwar angeboren, aber als Voraussetzungen eines kulturellen Mechanismus, der die veränderten Kräfte daran hinderte, sozial destruktiv zu werden. Verändernde und bewahrende Kräfte mussten im Gleichgewicht bleiben. Und das Niveau, auf dem sich dieses Gleichgewicht einstellte, wurde durch soziale Faktoren bestimmt (ebd.).

Die Bücher und Zeitungsbeiträge Herbigs lösten eine lebhafte Debatte aus.  In Was es bedeutet, Mensch zu sein. Die Ordnung der Welt ist nicht die der Natur umriss Herbig seinen Standpunkt:

Zur Debatte steht vielmehr die Frage, ob Evolutionsbiologie die Versprechungen der Evolutionsbiologen einlösen kann. Lassen sich sittliche Normen und politische Handlungsempfehlungen aus der Biologie des Menschen ableiten? Gibt es tatsächlich eine Biologie von Ethik, Philosophie und Politik? … Verhaltensbiologie kann daher eine notwendige, aber keine hinreichende Erklärung des gesellschaftlichen Verhaltens von Menschen sein. Auf der Ebene der Gesellschaft werden die angeborenen Verhaltensweisen durch übergeordnete kulturelle Normen und Traditionen geformt. Dort erfaßt die Verhaltensbiologie die „Mechanik“ von Verhaltensabläufen, deren kulturelle – soziale, politische, wirtschaftliche – Bedeutung aber entgeht ihr.

Als weitere Argumente führte Herbig an:

Wenn schon unsere Vorläufer für eine vergleichsweise einfache Welt kulturelle Ordnungsmodelle entwickelten, dann haben wir in unserer weitaus komplexeren Welt nicht den geringsten Grund, uns auf Defizite unserer stammesgeschichtlichen Grundausstattung zu berufen. Für kulturelles Lernen offen zu sein, ermöglicht es uns als einziger biologischer Art, sowohl in Kleingruppen als auch in Staaten mit Millionen anderen Individuen zusammenzuleben und zu diesem Zweck die unterschiedlichsten Wirtschaftsformen, Weltbilder und Sozialordnungen zu entwickeln.

Herbigs Aussagen blieben nicht ohne Widerspruch, wie bei Peter Brügge, der von Politischen Rezepten aus der Frühzeit sprach.

Brügge hielt Herbig entgegen:

Ohne die geschmähte Verhaltensbiologie wüßten wir noch immer nicht, woher so etwas ganz natürlich kommt: wie jedermann fröhlicher und wissender Verursacher dessen sein kann, was ihn bedroht. Menschen sprayen das Ozonloch groß, über das sie sich entsetzen. Sie vergiften die Meere und suchen darin Erholung. Sie genießen den Atomstrom, den sie verfluchen. Sie arbeiten für die Rüstung und zittern vor deren Folgen – und um den Arbeitsplatz.

Aus der genetischen Ur-Natur des Menschen, nicht aus seinem bösen Willen erklärt sich die Naturwissenschaft so schizophrenen Aberwitz. Denn einerseits hat sich genetisch seit Jahrzehntausenden nichts am Homo sapiens geändert, während andererseits das in seinem Großhirn erwachte Bewußtsein die Evolution einer planetaren, in den Kosmos schweifenden Kultur entzündete. Herbig will diesen vitalen Antagonismus einfach nicht sehen.

Auch der bekannte Wissenschaftsjournalist Dieter E. Zimmer fand nur wenig Gefallen an den Aussagen Herbigs: In Die Macht der Gene. Die Koevolution von Natur und Kultur muß sorgfältig entziffert werden schreibt er:

Wenn einige Autoren aus dem weiten und offenen Land der Biologie im Kampf den wichtigsten Selektionsfaktor der jungen Menschheit gesehen und das gewalttätige Erbe betont haben, das wir zu tragen hätten, verdient das durchaus, kritisch unter die Lupe genommen zu werden. Das Gegenteil kann Herbig jedoch ebensowenig beweisen; wie sie kann auch er nur Indizien anbieten und ausdeuten. Und dabei übertreibt er die Friedfertigkeit der Jäger und Sammler mindestens ebenso sehr, wie einige „Biologisten“ deren kämpferisches Wesen übertrieben haben mögen.

Herbigs Kritik an der Evolutionären Erkenntnistheorie hält Zimmer entgegen:

Aber evolutionäre Erkenntnistheorie hin oder her, es sind einfach empirische Tatsachen: daß wir uns Kausalitäten mit Vorliebe linear denken und Mühe haben, die komplexen Wirkungssysteme zu erfassen, in die wir eingebunden sind; daß wir uns auch Entwicklungen linear denken und exponentielle Zu- oder Abnahmen nur schwer begreifen; daß große Zahlen für uns immer nur „viel“ bedeuten; daß wir die Größe von Katastrophen in unseren Gefühlen nicht maßstäblich abbilden können; daß wir um der Konformität mit unserer Gruppe willen unbemerkt unsere Urteile beugen… Viele dieser Beschränkungen können wir durch bewußte Anstrengung und durch die Hilfsmittel von Wissenschaft und Technik überwinden. Aber es ist besser, nicht einfach zu leugnen, daß es sie zunächst einmal gibt.

Zum Schluss hielt Zimmer fest:

Für Aussagen wie „Menschliches Verhalten wird von genetischen Programmen regiert“ oder „Genetische Verhaltensprogramme gibt es beim Menschen nicht mehr“ sollte langsam kein Platz mehr sein. Im Fall des Menschengeschlechts findet seit Jahrmillionen eine Koevolution von Natur und Kultur statt, die sorgfältig entziffert werden muß. Das Individuum konstituiert sich in einer beständigen Auseinandersetzung genetischer Programme mit der Umwelt, darunter deren kulturellen Einflüssen. Aus starren Verhaltensprogrammen sind beim Menschen Verhaltensvorschläge geworden – aber unsere Freiheit ist nicht unbegrenzt, wir lernen nicht alles, und nicht alles gleich leicht. Der Mensch ist von Natur aus ein kulturbedürftiges Wesen – aber eine nicht auf typisch menschlichem Handeln, Fühlen und Denken beruhende Kultur wäre ihm nie beizubringen.

In den letzten Jahren haben sich mehrere Autoren, von unterschiedlichen Positionen aus, mit dem von Herbig gegeißelten Biologismus beschäftigt, wie Joachim Bauer in “Das kooperative Gen: Abschied vom Darwinismus” und Frans de Wals in “Primaten und Philosophen. Wie die Evolution die Moral hervorbrachte“.

Stolz berichtete Gerhard Roth vor einiger Zeit in einem Interview, dass es der Hirnforschung gelungen sei, den Nachweis zu erbringen, dass die Umwelt einen deutlichen größeren Einfluss auf das menschliche Verhalten hat, als viele Genforscher annehmen.

Damit befindet er sich auf einer Linie mit Adolf Portmann, der bereits vor Jahrzehnten feststellte:

Entscheidend ist die neue Erkenntnis, unsere kulturelle Lebensform sei durch und durch der für die Evolution wirksame wesentliche Faktor. Das heisst zunächst, dass in der besonderen Evolution des Menschen nicht in erster Linie die Übertragung von erblichen Mutationen der Keimanlage die wichtigsten Veränderungen bewirkt, sondern dass die geschichtliche Tradition durch unsere erlernten Kommunikationsweisen die Weitergabe von Neuerschafftem leistet. Die Genetiker selber sprechen von “sozialer Vererbung” und betonen, dass deren Wirksamkeit den Gang der natürlichen, der Vererbung von Keimveränderung bei weitem übertrifft. Soziale Vererbung ist das Instrument einer beschleunigten Evolution von unerhörtem Ausmaß. Durch die Intensivierung der Kontakte, der Publizistik, der Schulung, der Wirtschaft wird die Zeitspanne zwischen tief eingreifenden Neuerfindungen technischer oder künstlersicher Art immer kürzer – ein Phänomen, das zunächst einfach festgestellt werden muss, ohne dass wir irgendeine Wertung an diese Aussage knüpfen. … (in: Naturwissenschaft und Humanismus)

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