Von Ralf Keuper
Für Günter Grass ist der Fortschritt eine Schnecke. Dieser Befund gilt in weiten Teilen auch für die Wissenschaft. Manchmal sogar scheint der Fortschritt im Kreis zu verlaufen („Es kreiste der Berg und gebar eine Maus“), wie in der Hirnforschung.
So verblüffte Gerhard Roth, einer der wortgewaltigsten und öffentlichkeitswirksamsten Hirnforscher in Deutschland, in einem Interview mit der Deutschlandradio Kultur mit der Aussage, dass die Umwelt einen deutlich größeren Einfluss auf das Verhalten des Menschen hat, als viele Genforscher annehmen. Dies herausgefunden und in neurobiologischen Versuchen nachgewiesen zu haben, so Roth, sei eine Sensation. Damit sei auch die Annahme der Soziologie erhärtet, dass die Umwelt auf das Leben der Menschen einen maßgeblichen Einfluss ausübt. Die Soziologie sei dazu alleine nicht in der Lage gewesen; erst die Hirnforschung (!) habe bewiesen, was – nicht nur die Soziologen – schon immer angenommen und postuliert haben.
Donnerwettter! So sieht also wissenschaftlicher Fortschritt aus. Zu behaupten, nach Jahren intensiver Forschungen etwas bewiesen zu haben, was andere schon seit Jahrzehnten in ihren Forschungen als gesicherte Erkenntnis zu Grunde legen.
Respekt!
Auf die herausragende Bedeutung der Umwelt, der kulturellen Evolution, für das menschliche Verhalten haben vor den „sensationellen“ Ergebnissen der Neurobiologie schon Jahre zuvor andere namhafte Forscher hingewiesen, wie Karl R. Popper und John C. Eccles in ihrem von Roth und anderen heftig kritisierten Buch Das Ich und sein Gehirn.
Vor einigen Jahrzehnten stellte der renommierte Zoologe, Biologe und Naturphilosoph Adolf Portmann fest:
Entscheidend ist die neue Erkenntnis, unsere kulturelle Lebensform sei durch und durch der für die Evolution wirksame wesentliche Faktor. Das heisst zunächst, dass in der besonderen Evolution des Menschen nicht in erster Linie die Übertragung von erblichen Mutationen der Keimanlage die wichtigsten Veränderungen bewirkt, sondern dass die geschichtliche Tradition durch unsere erlenten Kommunikationsweisen die Weitergabe von Neuerschafftem leistet. Die Genetiker selber sprechen von „sozialer Vererbung“ und betonen, dass deren Wirksamkeit den Gang der natürlichen, der Vererbung von Keimveränderung bei weitem übertrifft. Soziale Vererbung ist das Instrument einer beschleunigten Evolution von unerhörtem Ausmaß. Durch die Intensivierung der Kontakte, der Publizistik, der Schulung, der Wirtschaft wird die Zeitspanne zwischen tief eingreifenden Neuerfindungen technischer oder künstlersicher Art immer kürzer – ein Phänomen, das zunächst einfach festgestellt werden muss, ohne dass wir irgendeine Wertung an diese Aussage knüpfen. … (in: Naturwissenschaft und Humanismus)
Und zu diesen Schlüssen sind er und andere Forscher ganz ohne Hirnforschung, ohne Neurobiologie gelangt?
Sensationell 😉
Weitere Informationen:
Gene wirken sogar, wenn sie nicht vererbt werden