Von Ralf Keuper

Hegels Geschichtsphilosophie und Staatstheorie bieten noch immer reichlich Stoff für Diskussionen und Spekulationen. Von der Anziehungskraft seiner Gedanken fühlten und fühlen sich zahlreiche Intellektuelle fast schon magisch angezogen. Während einige, wie Karl Popper und Jacob Burckhardt, Hegels Geschichtsphilosophie und deren leitende Annahme, in der Geschichte verwirkliche sich der (Welt-) Geist, als Historizismus (Popper) schroff ablehnten, waren andere, wie Karl Marx und aktuell Slavoj Žižek in Weniger als nichts – Hegel und der Schatten des dialektischen Materialismus dafür empfänglicher. Regelmäßig feiert Hegel ein Comeback.

Auch zu seinen Lebzeiten war Hegel nicht unumstritten. Sein schärfster Kritiker war Arthur Schopenhauer, der für Hegels Philosophie den Begriff „Hegelei“ in Umlauf brachte.

Poppers Kritik gegenüber Hegels Geschichtsphilosophie, wie er sie in seiner Streitschrift Die offene Gesellschaft und ihre Feinde formuliert, rief bzw. ruft ihrerseits scharfen Widerspruch hervor. Einen Einstieg gibt die Seite Hegel-System.

Popper wollte seine im neuseeländischen Exil verfasste Schrift auch nicht als wissenschaftliche Arbeit, sondern in erster Linie als politische Meinungsäußerung verstanden wissen.

Von seiner ablehnenden Haltung Hegel gegenüber ist Popper jedoch nie abgewichen. In einem Interview mit der Zeitung Die Welt im Jahr 1990 brachte Popper seine Haltung zum Ausdruck. Seiner Ansicht nach haben die Deutschen im 19. Jahrhundert die fatale Entscheidung getroffen, Hegel Kant vorzuziehen:

Die Deutschen standen schon vor 1848 vor einer Entscheidung: Kant oder Hegel? Sollen wir den Frieden wählen, oder die Macht des Staates? Zu ihrem Unglück wählten sie Hegel und das Gerede. Das konnte man mit geringerer Anstrengung erlernen. (in: Die Welt im Gespräch mit dem Philosophen Sir Karl Popper, Sonderdruck Februar 1990)

Einige Forscher sehen, wie Hubert Kiesewetter in Von Hegel zu Hitler, in Hegels Staatstheorie einen Wegbereiter des NS-Staates. Auch diese These blieb nicht ohne Widerspruch, wie aus einer Rezension in der FAZ aus dem Jahr 1974 hervorgeht.

Trotzdem lässt sich nicht von der Hand weisen, dass Hegels Philosophie mit ihrem Anspruch auf das Absolute deutliche totalitäre Züge aufweist, was ihn für spätere Interpretationen theoretischer und praktischer Art mitverantwortlich macht.

Wie problematisch Hegels Staatsverständnis war und ist, beschrieb Rudolf Eucken Anfang des 20. Jahrhunderts eindrücklich:

Aber er (Hegel) trägt auch ein gutes Stück Schuld an der Überspannung der Staatsidee, an jenem Politismus, der die Selbstständigkeit und Ursprünglichkeit des Lebens gefährdet. Kaum je wurde der Staat so mit übertriebenen Ausdrücken gefeiert, wie es von Hegel geschah. Ihm erschien der Staat als die vollgültige Verkörperung der Weltvernunft, als der Richter über Gut und Böse, er sieht in ihm den „göttlichen Willen als gegenwärtigen, sich zur wirklichen Gestalt und Organisation einer Welt entfaltenen Geist“, er verehrt ihn als ein „Irdisches Göttliches“, er setzt ihm keine Grenzen, er konnte als das erste Prinzip eines Staates erklären: „dass es keine höhere Vernunft, Gewissen, Rechtschaffenheit gibt, als das, was der Staat für Recht erkennt“. Ein solches Streben hat später Marx ins Wirtschaftliche übertragen und dadurch, wie wir wissen, dämonische Bewegungen hervorgerufen.

Wenn Hegel den Staatsgedanken stark überspannt hat, so verband er den Staat eng mit den Tiefen des Geisteslebens. Der Politismus des Parteistaates dagegen gerät unvermeidlich in Abhängigkeit von dem unwürdigen Menschengetriebe, das keine Macht der Ideen kennt. Hier dient alle Einrichtung der gemeinsamen Verhältnisse den selbstischen Zwecken einer besonderen Richtung, ja einer besonderen Partei, es fehlt hier eine überlegende Einheit, welche über das Nebeneinander hinausheben könnte.

Je mehr solch ein geistloser Politismus vordringt und alles an sich rafft, um so notwendiger wird es, dem Staat feste Grenzen zu ziehen, zunächst der Schädigung der Unabhängigkeit der Individuen und besonderer Verbände nach bestem Vermögen zu widerstehen, dann aber auch die prinzipielle Begründung des Politismus zu überprüfen. Die moderne Staatsidee ruht schließlich auf der Überzeugung von einer Immanenz der Vernunft in unserem Bereich; ohne eine solche Immanenz muss auch das staatliche Leben auseinanderfallen. Aber es wird zu einer ungeheuren Gefahr, dieses immanente Wirken als ein absolutes zu geben und sich ihm unbedingt zu beugen. ..

Alle staatlichen Einrichtungen bedürfen der Ergänzung und Kritik seitens der freien Gesellschaft.(in: Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt)

Hegels kritiklose Verehrung des Staates ist und bleibt daher hoch problematisch. Insofern kann man Hegel durchaus weiterhin als Feind der offenen, pluralistischen Gesellschaft bezeichnen und sich der Einschätzung Ralf Dahrendorfs anschließen:

Hegel wie Rousseau sind großzügig im Gebrauch des Wortes „Freiheit“. .. Doch sind tatsächlich beider Theorien mit Recht zur Ahnenreihe des Totalitarismus gezählt worden.  .. Karl Popper hat dann Hegels Staatstheorie als gefährlichen Vorläufer des totalen Staates mit seiner geschlossenen Gesellschaft enthüllt. Beide Thesen sind nicht unumstritten. Auch bewegen wir uns in einem Gelände, in dem Bestätigung und vor allem Falsifizierung .. schwierig ist. So muss eine Entscheidung getroffen werden. Sie fällt hier für Kant und gegen Rousseau, vor allem aber gegen Hegel. (in: Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung)

Nachtrag:

Karl Popper hat seine Kritik an Hegel und dessen Staatstheorie auf dem Popper-Symposium präzisiert:

Ich lese Hegel schon sehr lange nicht mehr, einfach deshalb, weil ich ihn nicht für ehrlich halte. Er sucht nicht die Wahrheit: Er will beeindrucken. Hegels Philosophie war wirklich die erste Philosophie, die in Deutschland mit Machtfrage zu tun hatte. Hegels Philosophie war die Vergötterung des Staates, und zwar speziell des preußischen Staates. Der preußische Staat wurde von Hegel in großartiger Weise als der „Marsch Gottes durch die Welt“ erklärt. Diese Hegelsche Philosophie wurde von Marx aufgegriffen. (in: Karl R. Popper/Konrad Lorenz: Die Zukunft ist offen)

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