Von Ralf Keuper

Über Ignaz Semmelweis sind schon zahlreiche Bücher und Artikel, ja sogar ein Spielfilm, erschienen. Im Zentrum stehen dabei immer seine Forschungen, die er während seiner Zeit als Assistenzart am Allgemeinen Krankenhaus in Wien im Jahr 1846 aus eigenen Antrieb durchführte. Semmelweis hatte beobachtet, dass auffallend viele Kindbettinfektionen und tote Wöchnerinnen in den Abteilungen auftraten, in denen die Schwangeren von Ärzten untersucht wurden, die zuvor Leichen seziert hatten. In einer anderen Abteilung, in der hauptsächlich Hebammen tätig waren, kam es dagegen zu deutlich weniger Todesfällen.

Semmelweis folgerte daraus, dass ein Zusammenhang zwischen der Tätigkeit der Ärzte und den Todesfällen bestehen müsse. Infolgedessen führte Semmelweis die Regelung ein, dass die Ärzte vor ihrem Kontakt mit den Schwangeren ihre Hände zuerst zu desinfizieren hatten. Danach ging die Zahl der Todesfälle in der Abteilung deutlich zurück. Hierfür musste Semmelweis große interne Widerstände überwinden. Fortan galt er unter seinen Kollegen, wie überhaupt in der Ärzteschaft, als Nestbeschmutzer.

Seitdem wird Semmelweis als Begründer der modernen Hygieneforschung und als „Retter der Mütter“ betrachtet. Die Hebammen erklärten ihn aus verständlichen Gründen zu ihrem Schutzheiligen.

Die neue Biografie In den Händen der Ärzte. Ignaz Semmelweis – Pionier der Hygiene geht erneut dem Lebensweg dieses herausragenden Forschers nach. In ihrer Besprechung Retter der Mütter, Gott der Hebammen in der FAZ vom 24.04.15 relativiert Martina Lenzen-Schulte einige der bisherigen Annahmen, die über die Forschungen und Rolle von Semmelweis kursieren.

Lenzen-Schulte hebt hervor, dass die von Semmelweis beobachteten Missstände zu jener Zeit nur in den großen Kliniken auffallen konnten. Die Hausgeburten, die von der Anzahl her den weitaus größten Anteil der Geburten repräsentierten, konnten dagegen nicht mit derselben Systematik untersucht werden. Noch im Jahr 1896 brachten 99 Prozent der Mütter ihre Kinder zu Hause zur Welt.

Lenzen-Schulte führt die Außenwirkung der Debatte auch darauf zurück, dass es sich hier um einen Stellvertreter-Krieg zwischen Ärzten und Hebammen handelte. Letztlich ging es dabei um die Absteckung von Reviergrenzen.

Bei der Klärung der Frage, weshalb Semmelweis nicht schon zu Lebzeiten die Ehrungen zuteil wurden, die ihm zugestanden hätten, vermisst Lenzen-Schulte in dem Buch einen Hinweis auf die Arbeiten von Thomas S. Kuhn und Ludwik Fleck. Seine Kritik am Establishment der Ärzte wurde erst öffentlich wahrgenommen, als Semmelweis schon längst nicht mehr an der Klinik tätig war.

Parallel zu Semmelweis forderten auch andere Ärzte, wie etwa Thomas Watson in England oder Oliver W. Holmes in Boston, dass die Ärzte ihre Hände sorgfältig zu desinfizieren hätten, da sie ansonsten zu einem „Vehikel“ werden würden.

Lenzen-Schulte schreibt dazu:

Auch diese beiden Ärzte konnten sich zunächst nicht durchsetzen, was indes längst nicht als ein unerklärliches Scheitern verhandelt wird, wie bei Semmelweis, sondern als das übliche Hin und Her zwischen den der Tradition verhafteten Forschern und den Innovativen. Es dauert eben, bis sich eine neue Idee durchsetzt.

Hier muss man differenzieren. Längst nicht jede neue Idee braucht heutzutage noch Generationen, um sich durchsetzen zu können. In der damaligen Zeit jedoch, war es wohl das übliche Verfahren. Dennoch muss man Semmelweis einen großen Mut und hohe Aufrichtigkeit bescheinigen. Nur auf leisen Sohlen, mit diplomatischen Geschick allein, ist wissenschaftlicher Fortschritt kaum möglich. Ob man dafür dann die entsprechende Anerkennung, noch zu Lebzeiten, erhält, ist wohl auch künftig eine Frage des „Schicksals“.

Weitere Informationen:

Ignaz Semmelweis: Retter der Mütter

Ignaz Semmelweis: „Welch unglaublicher Frevel!“

Audio: Wer war Ignaz Semmelweis?

The Semmelweis Myth And Why It’s Not Really True

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