Von Ralf Keuper

Das Streben nach Harmonie kann, so löblich es ist, dazu führen, dass Konflikte im Untergrund schwelen und die Stimmung trüben. Insofern kann ein reinigendes Gewitter, in dem die Fronten aufeinanderprallen und geklärt werden, durchaus von Vorteil sein. Sicherlich gibt es auch hier ein Maß, das nicht überschritten werden sollte, d.h. Dauerkonflikte, Problematisierungen um ihrer selbst willen, erweisen sich irgendwann als ebenso kontraproduktiv wie verordnete Harmonie. Darauf verweist Niklas Luhmann in seinem postum erschienenen Aufsatz Ebenen der Systembildung – Ebenendifferenzierung

Brand eins widmete dem Thema Harmonie im Jahr 2004 einen Schwerpunkt. In seinem Beitrag beschrieb Reinhard K. Sprenger, dass Einigkeit im Sinne von Konfliktvermeidung auch starrsinnig machen kann. 

In den 1950er Jahren sorgte der Soziologe Helmut Schelsky mit seiner These der Nivellierten Mittelstandsgesellschaft, als einer quasi-harmonischen Einheit der Gesellschaft ohne Spaltung in Klassen oder Subgruppen, für ebenso viel Aufsehen wie Widerspruch, letzteres vor allem von Ralf Dahrendorf.

In seinem Hauptwerk Gesellschaft und Demokratie in Deutschland schrieb Dahrendorf: 

Implizit wohnt den Institutionen der parlamentarischen Demokratie eine Einstellung zu Interessenkonflikten inne, wie sie aus der unterschiedlichen Stellung von Menschen in sozialen Zusammenhängen erwachsen, eine Einstellung, die sich auch auf andere institutionelle Bereiche übertragen lässt. Reduziert man diese Einstellung auf ihren abstrakten Kern, so gehört zu ihr erstens die Anerkennung von Divergenzen der Meinungen und Interessen als unvermeidlich; zweitens die auf dieser Einsicht beruhende Konzentration auf die Formen und nicht die Ursache von Konflikten; drittens die Errichtung von Institutionen, die den gegensätzlichen Gruppen verbindliche Normen des Ausdrucks bieten; viertens die Entwicklung von Spielregeln, an die sich die Konfliktparteien halten können, ohne dass eine von ihnen dadurch bevorzugt oder benachteiligt würde. …

Wo immer es menschliches Leben in Gesellschaft gibt, gibt es auch Konflikt. Gesellschaften unterscheiden sich nicht darin, dass es in einigen Konflikte gibt und in anderen nicht; Gesellschaften und soziale Einheiten unterscheiden sich in der Gewaltsamkeit und der Intensität von Konflikten. Aber während dieses soziologische Gesetz – wenn es ein solches gibt – den Schluss nahelegen würde, die skizzierte liberale Haltung zu Konflikten als die einzig realistische, vielleicht sogar (wie Bertrand Russell sagen würde) die einzige “wissenschaftliche” zu bezeichnen, hat die Geschichte der Menschheit dieses Gesetz sehr viel häufiger verletzt als anerkannt gesehen. 

Anders Karl Jaspers in dem Kapitel Kommunikative Situationen aus seinem Buch Existenzerhellung: 

Würde die Form politischen Umgangs die allein herrschende, so wäre die Möglichkeit existenzieller Kommunikation vernichtet. Existenz berührt Existenz erst, wo der Verkehr der Menschen als Kampf der um ihr Dasein gegeneinander kämpfenden “Feinde” durchbrochen wird. Aber die Verabsolutierung der Formen des politischen Umgangs bis in die Kleinigkeiten des Alltags, ja bis zum Umgang mit sich selbst ist die Verführung, ein Zusammenleben in relativer Ruhe zu ermöglichen, in dem nichts offen zu wirklicher Entscheidung gebracht wird. Die Entscheidungen sind dann hinterrrücks die stillen Vorgänge, in denen sich nicht mehr Existenz mit Existenz berührt. Politischer Umgang zur Lebensform gemacht, lässt hinter seinem Schleier mögliche Existenz verschwinden. Es bleiben die vitalen Daseinsantriebe unter der Decke des beruhigten und geordneten Daseins. Jeder gilt auf Gegenseitigkeit, nicht als er selbst. .. Im Grunde herrscht Selbstverachtung und im Geheimen die Verachtung aller Anderen. Respekt besteht nur vor Macht, Geltung in öffentlicher Meinung, vor Geld und Erfolg. Empörung bricht aus, wo die Ruhe der gegenseitigen Täuschung in der allgemeinen Befriedigung gestört wird, wo jemand sagt, was ist, und die Dinge bei ihrem unheiligen Namen nennt. 

Schreibe einen Kommentar