Von Ralf Keuper
In unserer Zeit, die in der möglichst raschen Anwendung theoretischen Wissens das höchste Ideal zu erblicken scheint, fallen Gedanken, wie sie Abraham Flexner vor über 70 Jahren in seinem Beitrag The Usefulness of Useless Knowledge veröffentlichte, womöglich unter den Verdacht der Ketzerei.
Anhand zahlreicher Beispiele herausragender Wissenschaftler wie Newton, Einstein, Hertz und Maxwell zeigt Flexner, dass diese Personen ihre Entdeckungen machten, nur machen konnten, weil sie bei ihren Forschungen keinen Gedanken an deren „Nützlichkeit“ verschwendeten. Jedenfalls war es nicht der vorherrschende Gedanke.
Flexner zitiert aus einem Gespräch mit dem Gründer von Eastman Kodak, George Eastman, worin Eastman sich von der raschen Verwertbarkeit theoretischer Forschungen überzeugt gab und auf die Frage, wer für ihn der wirkungsvollste Wissenschaftler aller Zeiten gewesen sei, mit Guglielmo Marconi antwortete. Stattdessen, so erwiderte Flexner, seien es kauzige, eigensinnige Forscher wie Hertz und Maxwell gewesen, die Marconis wirtschaftlichen Erfolg erst ermöglicht hätten:
Institutions of learning should be devoted to the cultivation of curiosity and the less they are deflected by considerations of immediacy of application, the more likely they are to contribute not only to human welfare but to the equally important satisfaction of intellectual interest which may indeed be said to have become the ruling passion of intellectual life in modern times.
Einige Seiten später fügt er noch hinzu:
An institution which sets free successive generations of human souls is amply justified whether or not this graduate or that makes a so-called useful contribution to human knowledge. A poem, a symphony, a painting, a mathematical truth, a new scientific fact, all bear in themselves all the justification that universities, colleges, and institutes of research need or require.
Interessant auch die Anekdote, die in dem Beitrag von dem berühmten Anatomen Wilhelm von Waldeyer und dessen damaligen Studenten Paul Ehrlich überliefert wird. Ehrlich fiel seinem Lehrer und Förderer durch seinen großen Fleiß auf. Bis spät in die Nacht pflegte Ehrlich noch im Labor zu arbeiten. Irgendwann wurde Waldeyer der Eifer seines Studenten suspekt und so ging er auf Ehrlich zu und fragte ihn, woran er da die ganze Zeit arbeite. In seinen Memoiren hat Waldeyer diese Episode festgehalten:
I noticed quite early that Ehrlich would work long hours at his desk, completely absorbed in microscopic observation. Moreover, his desk gradually became covered with colored spots of every description. As I saw him sitting at work one day, I went up to him and asked what he was doing with all his rainbow array of colors on his table. Thereupon this young student in his first semester supposedly pursuing the regular course in anatomy looked up at me and blandly remarked, „Ich probiere:“ This might be freely translated, „I am trying“ or „I amjustfooling.“
I replied to him, „Very well. Go on with your fooling.“ Soon I saw that without any teaching or direction whatsoever on my part I possessed in Ehrlich a student of unusual quality.
Das erinnert ein wenig an Steve Jobs‘ berühmte Rede: Stay foolish.
Einstein sprach einmal von der heiligen Neugier des Forschens:
Es ist eigentlich wie ein Wunder, dass der moderne Lehrbetrieb die heilige Neugier des Forschens noch nicht ganz erdrosselt hat; denn dieses delikate Pflänzchen bedarf neben Anregung hauptsächlich der Freiheit; ohne diese geht es unweigerlich zugrunde. Es ist ein großer Irrtum, dass Freude am Schauen und Suchen durch Zwang und Pflichtgefühl gefördert werden könne (Quelle: Autobiographisches, In: Albert Einstein als Philosoph und Naturforscher, hrsg. von Paul Arthur Schilpp)