Meine Folgerungen aus den Akten der Beteiligten, aus ihren Handlungen und Unterlassungen, sind eindeutig: Das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn haben sich auf ein Vabanquespiel eingelassen, das den Schritt in den Großen Krieg nicht scheute, um die Balance in der europäischen Politik zu ihren Gunsten zu wenden. Das Attentat von Sarajewo wurde entschlossen benutzt, um Österreich-Ungarn vom Druck Serbiens zu befreien und um herauszufinden, ob und wieweit Russland kriegswillig und kriegsbereit war. Unisono war man in der Führung des Deutschen Reiches und Österreich-Ungarns der Auffassung, dass die seit längerem als bedrohlich empfundene “russische Gefahr” inzwischen so drückend geworden sei, dass ein solcher Test notwendig wurde, um die Position Deutschlands und der Donaumonarchie im europäischen “Konzert” der Mächte zu behaupten. .. Die Befürchtungen vor einer möglichen Aggression Russlands mit seinem Verbündeten Frankreich ließen den Gedanken nahezu zum Allgemeingut der wilhelminischen Führung werden, dass es “besser jetzt als später” zum Kriege kommen sollte, wenn dieser ohnehin bevorstand.

Es ist dieses fatalistische Denken, das die “Mittelmächte” zutiefst beherrschte und mit dem “Sprung ins Dunkle” – so Reichskanzler Bethmann-Hollweg in der Julikrise – glaubte man, den Weg an ein rettendes Ufer doch noch finden zu können.

Nicht Weltmachtambition oder Kalkül imperialer Vorherrschaft waren also die Triebkräfte für die Entscheidungen des Juli 1914, sondern eine ausgeprägte Zukunftsangst.

Quelle: Juli 1914. Eine Bilanz, Autor: Gerd Krumeich