Seine Analyse liefert dabei weniger Prognosen, als vielmehr Einblicke in die Mechanismen der von ihm so bezeichneten „nachindustriellen Gesellschaft“, deren Auswirkungen in unseren Tagen immer deutlicher zum Vorschein kommen.
Was Bell unter der nachindustriellen Gesellschaft versteht, formuliert er wie folgt:
Die These dieses Buches lautet, dass wir in den nächsten dreißig bis fünfzig Jahren das Aufkommen der >postindustriellen Gesellschaft< erleben werden. Darunter verstehe ich in erster Linie einen Wandel der Sozialstruktur, der sich allerdings in den einzelnen Gesellschaften je nach den politischen und kulturellen Konstellationen unterschiedlich auswirken wird. Doch als Gesellschaftsform wird sie im 21. Jahrhundert die Sozialstruktur der USA ebenso wie die Japans, der Sowjetunion und Westeuropas prägen. Der Begriff der postindustriellen Gesellschaft als solcher ist ein abstrakter Begriff.
Treibende Kraft der nachindustriellen Gesellschaft ist das theoretische, abstrakte Wissen:
... Was den ersten Punkt , die zentrale Stellung des theoretischen Wissens angeht, so bedeutet er zunehmende Abhängigkeit von der Wissenschaft als Mittel der Neuerung und Organisationsprinzip des technologischen Wandels. Die meisten modernen Industrien sind allerdings, wie ich im folgenden zeige, eigentlich noch Industrien des 19. Jahrhunderts. Sie wurden von >genialen Bastlern< geschaffen, die sich bei ihrer Arbeit nicht um wissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten kümmerten. Die erste >moderne< Industrie, die Chemie, dagegen setzt, will man sein Ziel erreichen, theoretisches Wissen über die zu manipulierenden Makromoleküle voraus. Deutschland nun, seit eh und je ein Vorkämpfer dieses neuen Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Technologie und Ursprungsland eines gut Teils der chemischen Industrie, darf wohl mit Fug und Recht diese zentrale Stellung der Wissenschaft als altgewohntes Charakteristikum seiner Wirtschaft betrachten.
Die Quelle der Wissenschaft, so jedenfalls behaupte ich in diesem Buch, ist ihre >charismatische< Qualität, die ihr die Herausforderung der traditionellen Formen und Konzeptionen ermöglicht, und ihre Institutionalisierung der Existenz einer >charismatischen Gemeinschaft< zu danken, die die legitimierende Norm revolutionären Umschwungs aufstellte. Jede andere charismatische Instanz, ob Kirche oder revolutionäre Partei, ist im Prozess der >Routinisierung< dogmatisch und konservativ und in ihrer Dialektik schließlich wandlungsfeindlich geworden. In der Wissenschaft dagegen haben sich Theorie und Praxis wahrhaft vereint. Natürlich stehen auch die wissenschaftlichen Organisationen im Dienste eines Staates oder eines Unternehmens, aber das >Herz< der Wissenschaft muß .. revolutionär bleiben, gewissermaßen eine selbstkonstituierte Republik sich selbst regierender Menschen. Anderenfalls zerstört sich die Wissenschaft als Unternehmen selbst.
Dazu kommt in einer nachindustriellen Gesellschaft noch ein weiterer, prosaischer, aber darum nicht minder wichtiger Aspekt: die Betonung der höheren Bildung und die Schaffung einer technisch-akademischen Klasse, die die Führung der Gesellschaft übernimmt so wie ehedem der angelernte Arbeiter für die Industriegesellschaft kennzeichnend war. Dieser Entwicklungstrend ist ebenso unübersehbar wie unumkehrbar. Tatsächlich schrumpft die Zahl der Industriearbeiter in jeder fortgeschrittenen Industriegesellschaft im Vergleich zur Zahl der Techniker und Akademiker immer mehr, wodurch sich neue Dimensionen im Schichtungssystem einer Gesellschaft eröffnen.