Freilich gibt es auch eine Form des latenten Antisemitismus, die sich als Antizionismus ausgibt. In der Neuen Linken der 60er/70er Jahre, nicht zuletzt auch in der 68er-Bewegung, nistete sich eine schroffe Kritik an der israelischen Politik gegenüber den Arabern im eigenen Land und in den Lagern der vertriebenen oder geflüchteten Palästinenser ein. Diese Kritik richtete sich in erster Linie gegen den vermeintlichen Zionismus einer großisraelischen Expansionspolitik, diente aber auch als bequemes Vehikel eines oberflächlich kaschierten Antisemitismus, der Israel im Grunde sowohl das Existenzrecht absprach als auch ungeschminkt mit den radikalen palästinensischen Guerillabewegungen sympathisierte.
Unstreitig ist eine fundierte Kritik an der israelischen Außen- und Innenpolitik genauso legitimierbar wie die Kritik an irgendeinem anderen Land. Doch steckte im Vokabular und in den Denkfiguren des deutschen Antizionismus eine tiefe Aversion, die wegen der fließenden Grenzen allzu häufig in einen originären Antisemitismus überging. Der einseitige Philosemitismus als Gegenwehr hat in der Regel nicht zu einer überlegenen Gegenposition geführt. Das hat allein die argumentative Kritik an den vielfältigen Wurzeln und Folgen des Antisemitismus getan – gleich ob es sich etwa um den jahrhundertealten christlichen oder um den neuartigen Judenhass der fundamentalistischen Islamisten handelt. Während sich die Christen gleich welcher Konfession inzwischen von dieser unseligen Tradition entschieden abgewandt haben, steigert sich der muslimische Antisemitismus in einen blinden Fanatismus, demgegenüber jede multikulturelle Toleranz verfehlt ist. Da schon mehr als eine Milliarde Muslime auf dem Globus leben, ist ihr fundamentalistischer Flügel zur bedrohlichsten internationalen Gefahr des 21. Jahrhunderts aufgestiegen.
Quelle: Hans-Ulrich Weiler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1949-1990