Die Regeln, das “Funktionieren” der Wirklichkeit erkennen wir z.B. nach wissenschaftlichen Methoden immer nur bruchstückhaft. Die Poesie erkennt nicht, nicht so. Sie konstruiert selbst ein als Leben, Welt getarntes Regelwerk. In ihrer deutlichen Formsetzung aber steckt weniger Hochmut als gerade das Gegenteil, wenigstens als zugleich das Gegenteil. Also Bescheidung, Relativierung, eine Ideologiefeindlichkeit von Grund auf, Beschränkung und Kenntlichmachung der Perspektive. Indem nämlich die Literatur sich als von allen Seiten zu umkreisender Körper offensichtlich macht, als Gestalt, die man umrunden kann, die weder mit dem Leser noch mit der Realität verschwimmt, zeigt sie Kontur und also Grenzen, sagt beschwörend: Ich bin Fiktion, ein sinnenhaftes, sinnliches Modell mit Analogiebildungen zum Leben, bin aber nicht das Leben selbst. Ich locke dich, Leser, in den Bann meiner Maschine oder meines Reiches, aber entlasse dich auch wieder, vielleicht allerdings ein bißchen verändert, in deine Freiheit.

Poesie gibt nicht vor, in einem nachprüfbaren Sinn “richtig” und also alternativlos zu sein. Was sie interessiert, ist Evokation, die Suggestion. Dafür freilich ist ihr praktisch jedes Mittel recht. Manchmal gelingt, was sie will, so zwingend, dass wir eine literarische Formulierung mit der eigenen persönlichen Erfahrung verwechseln oder sogar glauben, erlebt zu haben, was wir bloß gerade lesen. Zu ihren Widersprüchen gehört, dass sie künstlich ist und gerade deshalb zu Leben erwecken kann, was vorher nicht da war.

Quelle: Als hätte es im Gedächtnis schon fertig geruht. Das Eigentümliche der poetischen Sprache, Frankfurter Rundschau vom 11. Juli 1998

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