Von Ralf Keuper
Fast jede Kultur oder Religion kann sich auf einen Schöpfungsmythos berufen. Auch die Digitalmoderne verfügt mit der digitalen Währung Bitcoin und ihrer Entstehungsgeschichte über einen vergleichbaren Mythos.
Der mythologische Held ist in diesem Fall Satoshi Nakamoto, der Bitcoin im Jahr 2009 entstehen ließ. Bereits 2011 verließ der Meister die Gemeinde seiner Jünger ohne große Erklärung oder Ratschläge für die Zukunft. Als Vermächtnis hinterließ er der Glaubensgemeinschaft das Paper Bitcoin: A Peer-to-Peer Electronic Cash System. Seither ist er, wie die New York Times schreibt one of the great mysteries of the digital age. Das erinnert ein wenig an die Lebensgeschichte des Zauberers und Lebenskünstlers Don Juan Matus, die Carlos Castaneda in seinen Büchern festgehalten hat.
Immer wieder tauchen Meldungen auf, in denen Zeugen berichten, sie hätten den echten Nakamoto erkannt.
Die Schar der Jünger ist seit dem Verschwinden des Meisters damit beschäftigt, die frohe Botschaft zu verkünden. Mit Bitcoin sollen Dezentralität und Demokratie auch im Finanzwesen Einzug halten. Nach zahlreichen Rückschlägen, die von außerhalb des engen Kreises kamen, wagt nun ein Jünger den Mythos ins Wanken zu bringen. In The Resolution of the Bitcoin experiment rechnet Mike Hearn scharf mit der Bitcoin-Bewegung ab. Darin ist von Grabenkämpfen die Rede, in deren Zentrum die Frage steht, ob die Verarbeitungskapazität der Bitcoin-Blockchain erweitert werden soll oder nicht. Zwei Lager stehen sich gegenüber: Diejenigen, die eine Erweiterung ablehnen, und die Gruppe derer, die für eine Erweiterung plädieren. Auf der einen Seite die Dogmatiker, auf der anderen die Reformatoren, so könnte man es vereinfacht darstellen.
Die Community reagierte leicht verschnupft bis gleichgültig, wie in Bitcoin-Entwickler sieht Kryptowährung gescheitert oder Abschied eines bockigen Kindes von Bitcoin. Ein typisches Muster beim Umgang mit Abweichlern und Häretikern, was nicht heißen soll, das hier nicht verletzte Eitelkeiten und eigene wirtschaftliche Interessen mit im Spiel sind.
Das eigentliche Problem von Bitcoin sind nicht die schwankenden Kurse oder Verfehlungen einiger Personen oder Plattformen, sondern die Tatsache, dass es sich hier um ein soziales Gebilde handelt, mit allen Vor- und Nachteilen. Anders jedoch, als in einer gewöhnlichen Firma oder wirtschaftlichen Interessenvereinigung, ist Bitcoin stark ideologisch aufgeladen. Das bringt eine andere Qualität mit sich; Richtungs- und Glaubenskämpfe sind die natürlichen Begleiter. Technologie-Bewegungen sind hier keine Ausnahme.
Überhaupt: Wie will eine digitale Währung für mehr Transparenz sorgen, wenn ihre eigene Entstehungsgeschichte über weite Teile im Dunkeln liegt? Wie lässt sich auf diesen Mythos ein neues Finanzsystem begründen?
Weitere Informationen:
Neue Versuchungen der Unfreiheit? – Bitcoin als Ideologie