Von Ralf Keuper

Seine Analyse baut auf der Gegenüberstellung von Traditions- und Innen-Lenkung auf. Unter der Traditionslenkung versteht Riesman dabei eine Gesellschaftsordnung, die von einem hohen Maß an Stabilität gekennzeichnet ist, mit festgelegten Rollen und etablierten Gruppen, die wiederum durch die jeweilige Kultur zusammengehalten werden, wie sie z.B. durch bestimmte Riten, das Brauchtum und die Religion verkörpert wird. Damit sind die Lebensbahnen der Menschen sowie die Verfahren bzw. Routinen zur Lösung gesellschaftlicher Probleme zu einem hohen Grad vorgezeichnet.

Wenig Anstrengung wird verwendet, um neue Lösungen für uralte Probleme zu finden, etwa auf die Technik des Ackerbaus oder auf die Medizin, da die Kultur gerade in deren Fraglosigkeit besteht.

Demnach wird die bestehende Ordnung als gegeben akzeptiert und nicht weiter in Frage gestellt. Eine Haltung, die so lange funktioniert, wie die äußere Umwelt vergleichweise stabil bleibt. Mit dem Aufkommen der Renaissance vollzieht sich für Riesman ein Wandel von der Traditionslenkung hin zur Innen-Lenkung. Jedoch ist auch hier das bestimmende Thema die Frage, wie die Konformität der Gesellschaftsmitglieder auch ohne direkte Bindung an die Tradition sichergestellt werden kann.

Die größten Chancen, die diese Gesellschaft zu vergeben hat – und die größte Initiative, die sie denen abverlangt, die mit den neuen Problemen fertig werden wollen, werden von Charaktertypen verwirklicht, denen es gelingt, ihr Leben in der Gesellschaft ohne strenge und selbstverständliche Traditionslenkung zu führen. Dieses sind die innen-geleiteten Typen.

Durch die Schaffung des innen-geleiteten Typus ist die Bahn frei für die weitere Analyse der modernen Gesellschaft, deren zentrale Aussagen auch heute noch zum Nachdenken anregen.
Die Tatsache, dass der Mensch sich in einer dynamischen Umwelt mit wechselnden Anforderungen zurecht finden muss, ohne dabei auf feste Rollenmuster oder überlieferte Traditionen zurückgreifen zu können, führt zur Entstehung eines neuen psychologischen Mechanismus in der offenen Gesellschaft, den er als den seelischen >Kreiselkompass< bezeichnet:

Nachdem dieses Instrument einmal von den Eltern und anderen Autoritäten in Gang gesetzt ist, hält es den innen-geleiteten Menschen >auf Kurs<, selbst dann, wenn die Tradition, die seinen Charakter geformt hat, seine Verhaltensweisen nicht mehr diktiert. So ist der innen-geleitete Mensch in der Lage, immer wieder jenes empfindliche Gleichgewicht zwischen den durch seine Lebensziele gestellten Forderungen und den Stößen, die er bei der Auseinandersetzung mit der Außenwelt empfängt, herzustellen.

Größte Herausforderung der Erziehung ist es demzufolge, die heranwachsenden Gesellschaftsmitglieder schon frühzeitig mit einem Kreiselkompaß zu versehen, der sie sicher durch die Unwägbarkeiten des vor ihnen liegenden Lebensweges geleitet. Die Kinder werden erzogen und nicht mit Liebe umsorgt, wie es heute verschiedentlich wünschenswert erscheint, und selbst wenn sie das Elternhaus verlassen haben, wird die Erziehung als Selbsterziehung fortgesetzt. Ihr ganzes Leben begleitet sie der Gedanke, dass sie an ihrem Charakter arbeiten müssen.

Als wäre es mit der Ernüchterung und Desillusionierung nicht schon genug, erläutert Riesman wenig später.

Die verhältnismäßig große Unbehaglichkeit in einem unter strenger Innen-Lenkung stehenden Elternhaus – die fehlende Nachsicht und Ungeniertheit im Umgang mit den Kindern – bereitet das Kind auf die Einsamkeit und das seelische Unbehagen vor, die solche Fragen verursachen werden, und zugleich für die sozialen Situationen, denen es sich gegenübergestellt sehen wird .. Man kann sagen, dass Eltern, die selbst innen-geleitet sind, in ihr Kind einen seelischen Kreiselkompass einbauen und in Gang setzen, der nach ihren eigenen Angaben und denen anderer Autoritäten geeicht ist. Hat das Kind Glück, so stellt sich die Drehzahl weder zu hoch noch zu niedrig ein, was sonst einerseits die Gefahr hysterischen Zusammenbruchs und andererseits die des sozialen Versagens in sich trüge

Zum Glück belässt es Riesman nicht bei dieser doch recht düsteren Prognose. So sieht er für die Menschen, die sich nicht eindeutig typisieren lassen, einen Ausweg:

Immer mehr Fähigkeiten und Künste, die einst durch lange und mühselige handwerkliche und charakterliche Schulung im Menschen angelegt und kultiviert wurden, werden jetzt von maschinellen Arbeitsprozessen und einer reibungslos funktionierenden Arbeitsorganisation übernommen. .. In Krankenhäusern, Anwaltsfirmen und an den Universitäten ist nicht nur Platz für Leute, die sich auf den Umgang mit anderen Menschen verstehen, sondern auch für solche, die mit chemischen Formeln, Paragraphen und Ideen umzugehen wissen. So lassen sich noch viele Stellungen für den sachorientierten Fachmann finden, der es entweder nicht lernen kann oder will, mit den Wölfen zu heulen.

 

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