Von Ralf Keuper
Das Lesen von Spuren ist von kaum zu unterschätzender Bedeutung für die menschliche Evolution. Das Fährtenlesen war für die ersten Menschen überlebenswichtig, wie Carlo Ginzburg in seinem berühmten Essay Spurensicherung schreibt:
Jahrtausendelang war der Mensch Jäger. Im Verlauf zahlreicher Verfolgungsjagden lernte er es, aus Spuren im Schlamm, aus zerbrochenen Zweigen, Kotstücken, Haarbüscheln, verfangenen Federn und zurückgebliebenen Gerüchen Art, Größe und Fährte von Beutetieren zu rekonstruieren. Er lernte es, spinnwebenfeine Spuren zu erahnen. wahrzunehmen, zu interpretieren und zu klassifizieren. Er lernte es, blitzschnell komplexe geistige Operationen auszuführen, im Dickicht des Waldes wie auf gefährlichen Lichtungen (in: Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst)
Gewissermaßen haben die Menschen schon relativ früh damit begonnen, in ihrem Alltag, ihrem Lebenskampf Prinzipien zu verwenden, die sich durchaus als wissenschaftlich bezeichnen lassen.
Ein Kunsthistoriker sorgt für internationales Aufsehen
Es sollte ein Kunsthistoriker sein, der das Spurenlesen, die Spurensicherung – gegen erheblichen Widerstand – als Wissenschaftsform etablierte bzw. rehabilitierte: Giovanni Morelli.
Morelli, nach dem die Morelli-Methode benannt wurde, veröffentlichte zwischen 1874 und 1876 unter einem Pseudonym mehrere Beiträge, in denen er ein neues Verfahren zur einwandfreien Identifizierung von Autoren antiker Bilder besprach. Ginzburg schreibt:
Fassen wir kurz zusammen, worin diese Methode bestand. Die Museen, so sagte Morelli, sind voll von Bildern, deren Autoren nur ungenau ermittelt sind. Aber es ist auch sehr schwierig, jedes einzelne Bild ganz exakt einem bestimmten Künstler zuzuweisen. Sehr oft hat man es mit Werken zu tun, die nicht signiert, die vielleicht übermalt oder schlecht erhalten sind. In solchen Fällen ist es unbedingt notwendig, die Originale von den Kopien unterscheiden zu können. Man dürfe sich daher, so Morelli, nicht – wie sonst üblich ist – auf die besonders auffälligen und daher leicht kopierbaren Merkmale der Bilder zu stützen .. Man solle stattdessen mehr die Details untersuchen, denen der Künstler weniger Aufmerksamkeit schenkt und die weniger von der Schule, der er angehört, beeinflusst sind: Ohrläppchen, Fingernägel, die Form von Fingern, Händen und Füßen. Auf diese Weise entdeckte Morelli für Boticelli, die für Cosimo Tura typische Form der Ohren und katalogisierte sorgfältig alle diese Merkmale, die in den Originalen, nicht aber in den Kopien vorkommen (ebd.).
Von Morelli beeinflusst wurde Sigmund Freud, dessen Psychoanalyse auch als Spurenlesen aufgefasst werden kann. Die Kunst der Spurenlesens auf zumindest literarische Höhen geführt, haben die Verfasser von Detektivromanen wie Arthur Conan Doyle und Edgar Allan Poe.
Die Arbeit von Archäologen und Paläontologen ist ohne Methoden zur Spurensicherung nicht vorstellbar. In der Kriminalistik ist das Sammeln von Spuren, von Indizien wesentlicher Bestandteil der täglichen Arbeit. Auf Indizien gestützt ist auch die Arbeit der Ärzte; überhaupt können die Humanwissenschaften auch als Indizienwissenschaften beschrieben, klassifiziert werden. Ginzburg spricht auch vom Indizienparadigma.
Durch Spuren können Personen eindeutig zugeordnet werden
Spuren erhalten um so mehr Aussagekraft, wenn sie sich einem bestimmten Träger zuordnen lassen. Der Durchbruch auf diesem Gebiet gelang mit der Einführung des Fingerabdrucks. Jeder Mensch lässt sich damit eindeutig identifizieren. Eine Wissenschaftsdisziplin, die sich ganz der Lesen von Zeichen verschrieben hat, ist die Semiotik.
Obschon Indizien nur Teile eines Puzzles repräsentieren und die Tendenz haben, sich im Detail zu verlieren, können sie auch dazu verwendet werden, auf das Ganze zu schließen:
Wenn die Forderung nach systematischer Erkenntnis auch immer anmaßender zu werden scheint, sollte deshalb die Idee von einer Totalität noch nicht aufgegeben werden. Im Gegenteil: Die Existenz eines tieferen Zusammenhangs, der die Phänomene der Oberfläche erklärt, sollte man gerade dann betonen, wenn man behauptet, dass eine direkte Erkenntnis dieses Zusammenhanges unmöglich ist. Wenn auch die Realität “undurchsichtig” ist, so gibt es doch besondere Bereiche – Spuren, Indizien -, die sich entziffern lassen (ebd.).
Datenspuren als Haupteinnahmequelle der Internetkonzerne
Heute, im Zeitalter des Internets, werden wir mit neuen Formen des Spurenlesens konfrontiert. Das Lesen der Datenspuren, die die Nutzer im Netz hinterlassen, ist ein Milliardenmarkt. Internetkonzerne wie facebook verdienen enorme Summen damit, die Spuren der Nutzer zu einem unverwechselbaren Profil zusammenzusetzen und an die Werbeindustrie, Unternehmen und andere Datensammler zu verkaufen. Ganz abgesehen von den Geheimdiensten, die eigene Programme für das Ausspähen entwickelt haben, wie der britische.
Spurenlesen als Mittel der Selbsterkenntnis
Für Cornelius Holtorf ist die Spurensicherung in erster Linie ein Mittel zur Selbsterkenntnis.
In der ‘Spurensicherung’ werden mitunter sehr persönliche Assoziationen und Erinnerungen evoziert, die darauf hinweisen, daß jenseits des absoluten Wissens etwas Wertvolles verschüttet liegt, das einer anderen Art der Aufdeckung bedarf. Dieses Etwas ist gerade deshalb wertvoll, weil es sich der modernen Wissenschaftswelt entzieht und eben nicht von der Archäologie oder einen anderen Wissenschaft ohnehin zu Tage gebracht wird . In diesem Sinne ist die ‘Spurensicherung’ so etwas wie Anti-Archäologie. Sie stellt die Authorität der Archäologen in Frage, indem sie auf das Nicht-Wissenschaftliche verweist – die Dinge, die uns als Wissenschaftler normalerweise entgehen, obwohl sie mindestens ebenso elementar und wichtig sind (in: Archäologie als Spurensicherung:Vehikel der Selbsterkenntnis. Über spurensichernde Archäologie)
Die Spurensicherung und das Indizienparadigma würden, so Holtorf, die tatsächliche Arbeit der Archäologen nicht widerspiegeln. Gemeinsamer Nenner von Archäologie, Indizienparadigma und Spurensicherung sei die Selbsterkenntnis:
Alle drei sind Gesten des Erinnerns und Ausdruck einer bestimmten Art des Reflektierens und Erlebens der Vergangenheit und ihrer materiellen Überreste in der Gegenwart. Sie alle produzieren Neuschöpfungen, die die Vergangenheit in die Gegenwart übersetzen und dabei im Grunde nur der Selbsterkenntnis dienen.
Teilnehmendes Beobachten statt Distanzierung
Weitere Kritik an Ginzburgs Indizienparadigma kommt von Anja Schwanhäußler in Die Bedeutung von ‚Clues’ bei hard boiled Krimis und der Chicago School of Sociology. Kritische Anmerkungen zu Ginzburgs Indizienparadigma. Unter Berufung auf Borislaw Malinonwski und dessen Methode des Teilnehmenden Beobachtens schreibt Schwanhäußler:
Sherlock Holmes Lupe ist immer auch als Signal und Technik der Distanzierung zu seiner Umwelt. Demgegenüber ist die Praxis von hard boiled Detektiv und Stadtforscher Malinowskis Methode der teilnehmenden Beobachtung verpflichtet. Aufgrund seiner eigenen Erfahrung bei den Kula erklärt Malinowski in den Argonauten: „Aus diesem Eintauchen in das Leben der Eingeborenen habe ich das klare Gefühl gewonnen, dass ihr Verhalten, ihre Wesensart in allen Stammesangelegenheiten durchsichtiger und besser verständlich wurden, als sie zuvor waren.“ Paradoxerweise sind die Instrumente, die Ginzburgs Analytiker zur Indiziengewinnung einsetzen, nämlich Kamera und Notizbuch, gerade jene, die Malinowski empfiehlt auch mal zur Seite zu legen. Wenn der Ethnograf „neben dem Normalen und Typischen dessen geringfügigen und ausgeprägten Abweichungen“ nur durch Notizen festhalten kann, so nützt es andererseits „bei dieser Art von Arbeit, manchmal Kamera, Notizbuch und Bleistift zur Seite legen und sich selbst am Geschehen zu beteiligen.“
Das Denken der Spur als Mittel gegen Systeme und Ideologien
Für Edouard Glissant war die Spur zentral für sein, wenn man so will, Paradigma der Kreolisierung. Das Denken der Spur als Gegengift zu Ideologien und Systemen. Von ihm kommt die Anregung
Dass das Denken der Spur sich, im Gegensatz zum Systemdenken, als eine Irrfahrt beifügt, die Orientierung gibt. Wir wissen, dass die Spur das ist, was uns alle, woher wir auch kommen, in Beziehung setzt. … Die Spur stellt aber auch nicht einen unfertigen Pfad dar, auf dem man rettungslos strauchelt, auch keinen in sich abgeschlossenen Weg, der ein Territorium begrenzt. Die Spur verläuft auf der Erde, die nie wieder ein Territorium sein wird. Die Spur ist eine undurchdringliche Weise, Zweig und Wind zu lernen, selbst zu sein, vom Andern abgeleitet. Sie ist der Sand in der wahren Unordnung der Utopie.
Das Denken der Spur erlaubt es, sich aus dem Würgegriff des Systems zu befreien. Es widerlegt damit alle Erfüllung durch den Besitz. Es reisst einen Sprung in das Absolute der Zeit. Es eröffnet sich für die versprengten Zeiten, welche die Menschheiten von heute untereinander vervielfachen, im Konflikt und im Wunder (in: Traktat über die Welt).
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Über Wandlungen und Niedergang der Detektivfigur