Wahrscheinlich haben wir alle, auf Grund unserer einseitigen naturalistischen Schulung, einen viel zu großen, einen übertriebenen Respekt vor den Ergebnissen der exakt-wissenschaftlichen Forschung, vor den Inhalten des physikalischen Weltbildes. Haben wir aber wirklich einen Wärmetod oder >Weltuntergang< insofern zu fürchten, als eine schließliche Katastrophe von kosmischen Ausmaßen unsere und der noch folgenden Generationen Bemühungen sinnlos machen könnte? Belehrt uns nicht vielmehr die >innere Erfahrung< des theoretisch unvoreingenommenen schlichten Erlebens darüber, dass z.B. die selbstverständliche Freude an einem schönen Sonnenuntergang irgendwie >realer< ist als etwa eine astronomische Berechnung des vermutlichen Zeitpunktes, an dem die Erde in die Sonne fallen würde? Kann uns etwas unmittelbarer gegeben sein als unsere Selbsterfahrung – das Selbstverständnis unseres Mensch-seins als Verantwortlich-seins? >Das Gewisseste ist das Gewissen<, hat jemand einmal gesagt, und keine Theorie vom physiologischen >Wesen< gewisser Erlebnisse, auch nicht die Behauptung, dass Freude ein ganz bestimmt arrangierter Tanz von Molekülen oder Atomen oder Elektronen innerhalb der Großhirnganglienzellen sei, war je so zwingend und überzeugend – wie eines Menschen, der höchsten Kunstgenuss oder reinstes Liebesglück erlebt, Gewissheit, dass sein Leben sinnvoll ist.
Quelle: Viktor E. Frankl: Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn