Von Ralf Keuper

Mit ihrem Buch Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit verhalfen Peter L. Berger und Thomas Luckmann der Wissenssoziologie zum Durchbruch. In der Folge avancierte das Werk zu einem Klassiker der Soziologie.
Schlüsselbegriffe ihrer Untersuchung sind “Wirklichkeit” und “Wissen”. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte es die Soziologie ihrer Ansicht nach versäumt, die Unterschiede zwischen den Begriffen und ihre Bedeutung für das tägliche (Zusammen-) Leben der Menschen herauszuarbeiten, wie sie gleich zu Anfang feststellen:

Die fundamentale Rechtfertigung des Interesses der Soziologie an der Problematik von “Wirklichkeit” und “Wissen” ist die Tatsache der gesellschaftlichen Relativität: was für einen tibetanischen Mönch “wirklich” ist, braucht für einen amerikanischen Geschäftsmann nicht “wirklich” zu sein. Das “Wissen” eines Kriminellen ist anders als das eines Kriminologen. Darauf folgt, dass offenbar spezifische Konglomerate von “Wirklichkeit” und “Wissen” zu spezifischen gesellschaftlichen Gebilden gehören und dass diese Zugehörigkeit bei der soziologischen Analyse dieser Gebilde berücksichtigt werden muss. … Mit anderen Worten: Wissenssoziologie darf ihr Interesse nicht nur auf empirische Vielfalt von “Wissen” in den menschlichen Gesellschaften richten, sondern sie muss auch untersuchen, auf Grund welcher Vorgänge ein bestimmter Vorrat von “Wissen” gesellschaftlich etablierte “Wirklichkeit” werden konnte.

Eine besondere Bedeutung für die gesellschaftliche Wissensvermittlung haben die Institutionen. Die Welt, in die ein Mensch hineingeboren wird, wird zu einem großen Teil von den in ihr etablierten Institutionen geprägt und damit auch bestimmte Ausschnitte der Wirklichkeit. Für Berger und Luckmann repräsentieren sie sogar “Objektive Wirklichkeit”. Der Mensch kann sich ihrem Einfluss nicht entziehen und muss daher lernen, mit ihnen umzugehen oder sich mit ihnen zu arrangieren. Institutionen sorgen dafür, dass das Leben der Menschen, zumindest in bestimmten Lebensbereichen, sich in den Bahnen der Gewohnheit bewegt:

Je mehr Verhaltensweisen institutionalisiert sind, desto mehr Verhalten wird voraussagbar und kontrollierbar.Wenn die Sozialisation des Einzelnen in die Institutionen hinein erfolgreich ist, können äußerste Zwangsmittel sparsam und mit Auswahl angewandt werden. Meistens stellt sich Verhalten “spontan” ein – in institutionell vorgeschriebenen Bahnen.

Mit Institutionen sind hier freilich nicht nur staatliche Verwaltungen gemeint, sondern auch das weite Feld der Sitten und Gebräuche ebenso wie das Rechtswesen eines Landes, einer Gesellschaft.

Indes lässt die Institutionalisierung in einer Gesellschaft häufig noch immer genügend Raum für Privatheit und Eigeninitiative, sofern man sie nicht als gottgegeben und unveränderlich hinnimmt:

Institutionalisierung ist jedoch kein unwiderruflicher Prozess, obwohl Institutionen, sind sie erst einmal entstanden, eine Neigung zur Dauerhaftigkeit zeigen. Aus einer Vielzahl historischer Gründe kann der Spielraum für institutionalisierte Tätigkeiten auch kleiner werden. Entinstitutionalisierung gewisser Bereiche des gesellschaftlichen Lebens kann um sich greifen. Die private Sphäre, wie sie sich zum Beispiel in unserer modernen Gesellschaft herausgebildet hat, ist, im Vergleich zur öffentlichen, in beachtlichem Maße frei von Institutionalisierung.

Institutionen müssen Berger und Luckmann zu Folge daher immer bestrebt sein, ihre Legitimation zu rechtfertigen und zu erneuern. Der Verweis auf die eigene lange Lebensdauer reicht hierzu nicht aus, kann sogar ein Grund dafür sein, sich endlich von ihr zu befreien oder sie einem tiefgreifenden Wandel zu unterziehen.

Ähnlich wie Berger und Luckmann bewertete auch John Rawls die Rolle von Institutionen in einer Gesellschaft. So schreibt er in seinem Hauptwerk Eine Theorie der Gerechtigkeit:

Institutionen sind Verhaltensmuster, die durch öffentliche Regelsysteme festgelegt werden, und das bloße Innehaben der in ihnen bestehenden Ämter und Positionen ist gewöhnlich schon ein Zeichen für bestimmte Absichten und Ziele. Die Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse und die Ansichten der Menschen darüber haben starken Einfluss auf die Gefühle; sie bestimmen in hohem Maße, wie man es ansieht, wenn jemand eine Institution anerkennt oder verwirft oder sie versucht, zu reformieren oder zu erhalten.

In gleicher Weise wie Rawls äußerte sich Ralf Dahrendorf in einer Rede aus dem Jahr 1974.

Der Wissenssoziologie wenig abgewinnen konnte Karl R. Popper schon im Jahr 1945. Darin wandte er sich entschieden gegen den Relativismus, dem die damals führenden Vertreter der Wissenssoziologie wie Max Scheler und Karl Mannheim in Nachfolge Hegels seiner Ansicht nach verfallen waren. Im Gegensatz dazu plädierte Popper für eine wissenschaftliche Haltung, die davon ausgeht, dass Theorien wie auch Institutionen sich der Kritik in einem fortlaufenden Prozess von Versuch und Irrtum stellen müssen. Zwar gebe es auch dann nur vorläufige Lösungen, was jedoch nicht auf Vorurteile und gesellschaftliche Verhältnisse zurückgeführt werden könne, sondern dem Prinzip des wissenschaftlichen Fortschritts entspricht:

Die Idee ist irrig, dass ein soziologisches, psychologisches, anthropologisches oder sonst ein Studium von Vorurteilen uns helfen kann, uns von ihnen zu befreien. Denn zahlreiche Denker, die sich diesen Studien widmen, sind voll von Vorurteilen; und die Selbstanalyse ist nicht nur unfähig, die unbewussten Determinanten unserer Ansichten zu überwinden, sondern sie führt sehr oft zu einer noch viel subtileren Selbsttäuschung. … Die Selbstanalyse ist kein Ersatz für jene praktischen Handlungen, die zur Errichtung von demokratischen Institutionen notwendig sind; und nur diese können die Freiheit des kritischen Denkens und den Fortschritt der Wissenschaft garantieren. (in: Gegen die Wissenssoziologie, Karl Popper Lesebuch)

Zu dem Zeitpunkt als Popper diese Zeilen verfasste, lag die Veröffentlichung von Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (sie erschien 1966) noch in weiter Ferne. Ob sich Popper später mit Berger und Luckmann und der Wissenssoziologie ähnlich intensiv beschäftigt hat wie 1945 ist mir nicht bekannt.

Insgesamt erscheint mir der Ansatz von Berger und Luckmann, zumindest als Hypothese, nach wie vor für brauchbar, um die Entstehung bestimmter gesellschaftlicher Konstrukte und vorherrschender Ideologien besser zu verstehen, so wie Ludwik Fleck in Denkstile und Tatsachen.

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