Von Ralf Keuper

Kaum ein Begriff hat sich in den letzten Jahren so tief in das öffentliche Bewusstsein gesenkt, wie der der Systemrelevanz. Als die Finanzkrise auf ihrem Höhepunkt war, glaubte man feststellen zu können, dass die Banken, oder zumindest einige von ihnen, so wichtig für das Wirtschaftssystem sind, dass sie nicht untergehen dürfen und daher vom Staat gerettet werden müssen. Seitdem dient das Etikett systemrelevant dazu, ganze Bereiche in Wirtschaft und Gesellschaft für unverzichtbar zu erklären. Neben den Banken ist es in Deutschland vor allem die Automobilindustrie, die ebenfalls als systemrelevant gilt. Auch hier ist im Zweifelsfall der Staat zur Stelle, wenn sich herausstellt, dass einige Blütenträume nicht eintreten wollen und sich die Annahmen als zu optimistisch oder schlicht falsch erweisen. 

Aber damit nicht genug: Auch die Kulturbranche in Deutschland entgegnet Kritikern, die von einer Kulturblase sprechen, ebenfalls systemrelevant zu sein. Ja und auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk ließ erst kürzlich verlauten, nicht nur systemrelevant, sondern Stützpfeiler der Demokratie zu sein. Gewöhnt haben wir uns dagegen schon lange an die Systemrelevanz der Landwirtschaft, der Luft- und Raumfahrt und sogar des Profi-Fussballs. 

Irgendwie ist alles systemrelevant. Eine Aussage, der die Systemtheorie, die letztendlich von  nichts anderem handelt, zustimmen dürfte. Kritiker werfen der Systemtheorie ihre konservative Grundtendenz vor. Hat sich ein System erst einmal etabliert und ist es gar in den Rang der Relevanz aufgestiegen, ist es quasi unverzichtbar – zumindest aus Sicht des bestehenden Meta-Systems. 

Die Gefahr besteht jedenfalls, dass sich das Meta-System und damit die Gesellschaft auf einen Zustand bewegt oder dort verharrt, der dem des Stillstands nahe kommt. Damit dieser Fall nicht eintritt, sind abweichende Ideen, neue Akteure und Kritik nötig, die meistens (noch) nicht systemrelevant sind. Die bestehenden Systeme sind dazu häufig nicht mehr in der Lage oder willens. Gesellschaften benötigen zu ihrem Fortschritt den Disput, den Wettbewerb der Ideen. Karl Popper prägte dafür den Begriff der Offenen Gesellschaft. Systemrelevanz steht letztlich im Widerspruch zur Offenen Gesellschaft. Ein Teil eines Gesellschaftssystems darf nie so relevant werden, dass sein temporärer bzw. teilweiser Ausfall alle anderen mit in die Tiefe reißt oder lahmlegt. 

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