Von Ralf Keuper
Der Ruf der Wirtschaftswissenschaften hat in den letzten Jahren arg gelitten. Das ist sicherlich auch auf die Finanzkrise 2007/2008 zurückzuführen, die nur von sehr wenigen Ökonomen vorhergesehen wurde. Die große Mehrheit war dagegen blind, was ihnen von verschiedener Seite Häme einbrachte. Diese magere Erfolgsbilanz hindert einige Ökonomen indes nicht daran, sich mit Prognosen zum Wirtschaftswachstum und zur langfristigen Entwicklung an den Börsen bei jeder sich bietenden Gelegenheit – vorzugsweise im Fernsehen zur besten Sendezeit – zu Wort zu melden. Das passende Format wäre in vielen Fällen weniger das öffentlich-rechtliche Fernsehen oder die verschiedenen Börsensendungen, sondern Astro-TV. F.A. von Hayek hätte dieses Phänomen womöglich als einen weiteren Fall einer Anmaßung von Wissen bezeichnet.
Von daher ist ein Buch wie Plädoyer für eine bescheidenere Ökonomie. Über Wissen und Nichtwissen in der Finanzindustrie von Klaus W. Wellershoff ein Lichtblick.
Prof. Dr. Klaus W. Wellershoff, ehemaliger Chefökonom der UBS und inzwischen Gründer und Verwaltungspräsident der Unternehmensberatung Wellershoff & Partners Ltd. und von ZWEI Wealth Experts AG, verfolgt mit seinem Buch ein auf den ersten Blick bescheidenes Ziel. Es gilt den Bereich unseres Nicht-Wissens klar zu benennen und zu erkennen, um danach den Blick auf die Fragen zu lenken, bei deren Beantwortung wir auf – nach menschlichen Maßstäben – gesichertes Wissen zurückgreifen können.
Wenn ich von Wissen rede, muss ich mich natürlich beeilen hinzuzufügen, dass diese Art des Wissens im philosophisch engen Sinne immer nur vorläufig ist. Dennoch ist unser Verständnis über volkswirtschaftliche Zusammenhänge und auch über die Grundzusammenhänge an den Finanzmärkten in Teilen so weit entwickelt, dass wir tatsächlich überraschend verlässliche Aussagen über die Zukunft machen können. Ich glaube, dass wir mit einer bescheiden auftretenden Ökonomie gute Hilfestellungen für Ihre wirtschaftlichen Entscheide geben können.
Damit befindet sich Wellershoff in etwa auf einer Linie mit dem bereits erwähnten F.A. von Hajek und Herbert A. Simon. Letzterer prägte den Begriff der Begrenzten Rationalität (Bounded Rationality).
Auf gesichertes Wissen können wir uns laut Wellershoff beispielsweise bei der langfristigen Entwicklung des Volkseinkommens stützen. Entgegen der landläufigen Ansicht sind neue Technologien für das Wachstum einer Volkswirtschaft nicht das entscheidende Kriterium:
Neue Technologien sind zwar extrem wichtig für die Entwicklung von einzelnen Unternehmen und Branchen. Auf die Entwicklung des Volkseinkommens haben sich aber praktisch keinen Einfluss.
Wellershoff beruft sich dabei auf die Arbeiten verschiedener Wissenschaftler, wie des Wirtschaftshistorikers Angus Maddison, ebenso wie auf eigene von seinen Unternehmen durchgeführte Studien. Die Ergebnisse stimmen nachdenklich:
Die Wachstumsraten der Zukunft werden mit grösstmöglicher Wahrscheinlichkeit deutlich unter den Wachstumsraten liegen, die wir in unserem Leben bisher bewusst erfahren durften. Punkto Wachstum liegt das Beste also bereits hinter uns.
Dieser Befund gilt auch für die sog. Schwellenländer, allen voran China, wo seit 2013 die Investitionsquoten fallen. Entscheidend für das künftige Volkseinkommen ist die Produktivität:
Wir wissen, dass die Schlüsselvariable für unser zukünftiges Einkommen Produktivität heisst und dass wir alles dafür tun müssen, diese zu steigern. Neben einem klaren Fokus auf effiziente Ausbildungssysteme gehört dazu auch, dass wir versuchen, unseren Außenhandel so frei wie möglich zu halten.
Weniger verlässlich ist unser Wissen dagegen bei der Bewertung der Inflation. Im Gegensatz zu früher, wird heute kein direkter Zusammenhang zwischen der Geldmenge und der Inflation unterstellt. Denn, ob es bei steigender Geldmenge zu Inflation kommt, ist davon abhängig, ob dieses Geld auch in den Wirtschaftskreislauf fließt und dort zu steigender wirtschaftlicher Aktivität führt, die dann wiederum steigende Preise zur Folge hat. Wir wissen schlicht zu wenig über das Zusammenwirken der verschiedenen Faktoren, die zu Inflation führen können.
Bei der Beurteilung der Zinsentwicklung ist die Wissensbasis besser. Das tiefe Zinsniveau, der Zinsverfall der letzten 35 Jahre wird sich auf Dauer nicht fortsetzen.
Damit es .. also zu einer dauerhaft und deutlich negativen Verzinsung kommen kann, müsste aber nicht nur das Bargeld abgeschafft werden, es müssten auch alle Substitute für Bargeld verboten werden. Sonst werden die Menschen schnell versuchen, auf werthaltigere Anlageinstrumente auszuweichen. Zu solchen Substituten gehörten historisch betrachtet neben ausländischem Bargeld auch Dinge wie Zigaretten, Gold, Muscheln und sogar Aspirintabletten. Eine solche Entwicklung erscheint mir sehr unwahrscheinlich.
Kurzum: Ein weiteres Absinken des Zinsniveaus bei moderater Inflationsrate ist äußerst unwahrscheinlich. Das wiederum hat Auswirkungen auf andere Anlageformen, wie Aktien und Immobilien. Die Anlagerenditen der vergangenen 30-40 Jahre lassen sich in den kommenden Dekaden nicht mehr wiederholen.
Etwas besser als bei den Faktoren, die für Inflation verantwortlich sind, steht es bei unserem Wissen bezüglich der Wechselkursentwicklung. Wichtige Gradmesser sind hierbei die Inflationsdifferenzen und die Kaufkraftparität.
Bei der Wahl der eigenen Anlagestrategie sollten wir berücksichtigen, dass wir zu wenig über die Verteilung der erwarteten Renditen wissen. Es zeigt sich, dass die “naive Anlagestrategie” (Schweizer Obligationen, Immobilien, Aktien und Geldmarkt kombiniert mit Aktien und Obligationen aus dem Rest der Welt) häufig besser funktioniert, als die der Fondsgesellschaften bzw. Vermögensverwalter. Dort wird der Kunde auf ein bestimmtes Risikoprofil festgelegt, obwohl die Risikobereitschaft je nach Zeithorizont und Lebensumständen stark variiert. Das Ergebnis ist im Vergleich zur “naiven” Anlagestrategie äußerst bescheiden:
Die “naive” Anlagestrategie, die unter der Annahme weitestgehender Ungewissheit über die Zukunft abgeleitet worden ist, schlägt den Durchschnitt der Angebote der Finanzindustrie, gemessen anhand ihrer eigenen professionellen Kriterien.
Die naive Strategie ist zwar zu schlagen, jedoch ist dazu viel Disziplin und Bescheidenheit, was die eigene sowie die Prognosefähigkeit anderer betrifft, nötig.
Das Problem bei verwalteten Vermögen ist, dass die Rendite schon allein durch die hohen Verwaltungsgebühren begrenzt wird. Kommt dann noch eine schlechte Ausführung dazu, sinkt die Rendite weiter. Man sollte daher seinen Vermögensverwalter oder seine Bank kontrollieren.
Wellershoff gibt den praktischen Rat:
Als Faustregel lässt sich bei der Auswahl der guten Vermögensverwalter gemäss unserer Erfahrungen sagen: Wenn ein Vermögensverwalter sein Anlagekonzept einfach erklären kann und Ihnen gegenüber bescheiden darlegt, was sein Leistungsversprechen beinhaltet, ist das ein gutes Indiz. Wir aber mit der Anzahl der in den Anlageprozess eingebundenen Spezialisten geprahlt und die Überwachung aller Märkte versprochen, sollten bei Ihnen die Alarmglocken schrillen.
Die Vermögensverwaltungsbranche muss sich auf einen Bedeutungsverlust einstellen. Die Kunden sind kritischer geworden, die Vergleichsmöglichkeiten sind größer als früher. Kritisch steht Wellershoff dem Robo Advising gegenüber.
Statt mit allzu großem Selbstvertrauen auf die Kraft von Algorithmen und Modellen zu setzen, bleibt in meinen Augen grosse Bescheidenheit bezüglich unserer Prognosefähigkeit und unserer Portfoliotheorie vorläufig noch angebracht. Wir bleiben in Anlagefragen mit einem Problem der Ungewissheit konfrontiert.
Unser Wissen über die Zukunft ist unvollständig. Prognosen haben daher nur begrenzte Aussagekraft. Der Historiker Reinhart Koselleck schrieb dazu:
Prognosen sind nur möglich, weil es formale Strukturen in der Geschichte gibt, die sich wiederholen, auch wenn ihr konkreter Inhalt jeweils einmalig und für die Betroffenen überraschend bleibt. Ohne Konstanten verschiedener Dauerhaftigkeit im Faktorenbündel kommender Ereignisse wäre es unmöglich, überhaupt etwas vorauszusagen (in: Zeitschichten).
Wellershoff hat in seinem Buch die “Konstanten verschiedener Dauerhaftigkeit im Faktorenbündel” überzeugend dargelegt und die Lücken, die unsere Prognosefähigkeit auf ein bescheidenes Maß senken, benannt.
Crosspost von Bankstil