Warum wohl ist die Tatsache der Evolution, deren Entdeckung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts doch offensichtlich “in der Luft lag”, nicht von den großen deutschen Denkern jener Zeit gemacht worden, warum vor allem hat sie nicht schon ein Jahrhundert früher Goethe erschaut, der größte aller Seher, der mit seinen Gedanken über die Urpflanze und über die Metamorphose, mit seiner Entdeckung des Zwischenkiefers drauf und dran scheint, den entscheidenden Schritt zu tun? Darwin und nicht Goethe ist mein Geistesheros, das wage ich selbst hier in Weimar laut zu sagen, aber ich müßte in dieser meiner Heldenverehrung schön überaus verblendet sein, um nicht zu sehen, wie fußgängerhaft der Weg Darwinscher Gedankenfolgen im Vergleiche zum Gedankenfluge Goethes wirkt. Aber weiter gekommen ist er dennoch auf einem Wege, auf dem der Olympier steckenblieb – und ich glaube zu wissen weshalb: weil Goethe den sogenannten Typus, diesen gefährlichen Abkömmling der platonischen Idee, für etwas Selbständiges, unabhängig von seiner Verkörperung in realen Einzeldingen Existentes gehalten hat. 

Quelle: Das Wirkungsgefüge der Natur und das Schicksal des Menschen