Von Ralf Keuper
Der Philosoph Friedrich Jodl ging in seinen Buch Ästhetik der bildenden Künste näher auf die enge Verbindung der Stilgeschichte mit der Kulturgeschichte der Menschheit ein. Für ihn war das Verhältnis spiegelbildlich.
Zuvor wandte er sich der Frage nach der Herkunft des Begriffs “Stil” zu. Die seiner Ansicht nach nächstliegende Definition stammt aus dem griechischen. Dort steht der Begriff Stil für “Säule”. Er schreibt:
Und demgemäß bedeutete “Stil” ursprünglich nichts anderes als “Säulenordnung”, und in dem Gegensatze der Säulenordnung, d.h. der Säule selbst mit den zu ihr gehörigen Formen der Basis und des Gebälks, wie er sich in der griechischen Bauweise ausbildete, wurzelte ohne Zweifel der Gedanke der verschiedenen Architekturstile … nirgends fallen die Differenzen in den Ausdrucksformen für die künstlerischen Zwecke so in die Augen wie in der Baukunst.
Zur Verbindung Stilgeschichte-Kulturgeschichte:
Die Stilgeschichte ist ein Spiegelbild der Kulturgeschichte der Menschheit: die Kunststile verkörpern ebenso viele Lebensstile und der genetischen Zusammenhang zwischen den Formen, deren sich die einzelnen Stile bedienen, zeigt die Berührung und Verknüpfung der Völker ebenso, ja in vielen Fällen noch deutlicher, als der sprachliche Zusammenhang. Die Stilgeschichte ist gleichsam ein Bilderbuch zur Weltgeschichte des Stiles.
Neben der Antike verdient die Gotik hervorgehoben zu werden:
Die Gotik ist in künstlerisch-stilistischer Beziehung das Alphelium zur antiken Kunst, geradeso wie die Kultur und Geschichte jener Zeit – die hierarchisch-organisierte Papstkirche, die feudalistische Gesellschaft, das Bürgertum der Städte und die Zünfte – den äußersten Gegensatz zu den Lebensformen der römischen Kaiserzeit und die mittelalterliche Wissenschaft mit ihrer eigentümlichen Vermischung von Theologie und Philosophie, von Gläubigkeit und spitzfindiger Dialektik, von Autoritätsglauben und formalistischer Gewandtheit, den äußersten Gegensatz gegen die antike Wissenschaft und Rhetorik darstellen. …
Die Gotik nimmt darum in der Geschichte der abendländischen Stilentwicklung eine ganz besondere Position ein: niemals hat sich das künstlerische Schaffen einer Periode, der es weder an Feinsinn noch an durchgebildetem technischen Vermögen gebrach, weiter von dem Formenreich der antiken Welt entfernt, und kein anders Formenreich kann außer dem hellenischen ein solches Maß an Originalität beanspruchen wie das der Gotik. Natürlich ist auch diese so einheitliche und in sich geschlossene Kunstform nicht vom Himmel gefallen oder eines Tages fix und fertig aus einem Künstlergehirn entsprungen. Geradeso wie die hellenische Kunst, ist auch sie in langsamer Umbildung bestehender Ausdrucksweisen zu voller Selbständigkeit erwachsen, wobei einerseits die Motive der altchristlichen Kunst, andererseits Formen der alten nordgermanischen Kunst .. die Basis der Entwicklung gaben. … Die Periode der Gotik ist der Sonnenwendtag in der abendländischen Stilgeschichte. Denn die ganze weitere Entwicklung bis auf die allerjüngste Gegenwart ist beherrscht von der Tatsache des übermächtigen Einflusses, welchen das wiederentdeckte klassische Altertum auf Stilgefühl und Ausdrucksweise ausgeübt hat.
Jodl unterscheidet zwischen dem autochthonen Stil, dem Übergangsstil und dem originalen Kunststil.
Über die autochtonen Stile:
Alle autochthonen Stile lassen sich in ihrer Architektur dem Zusammenhang mit einfacheren Weisen tektonischer Bildung erkennen; in ihrer Plastik und Malerei das Bestreben, die unvollkommene Nachahmung der Natur durch Stilisierung, d.h. durch feste, konventionelle Regeln und Darstellungsformen zu ersetzen. Allen autochthonen Stilen fehlt die Kenntnis der Perspektive und in tektonischem Sinne die Fähigkeit zu geschlossener, konstruktiver Raumbehandlung. Kein autochthoner Stil hat die volle Freiheit in der Architektur, die volle Wahrheit in den nachahmenden Künsten erreicht, in welcher ihre Ausdrucksfähigkeit und ihre formaler Reiz in vollem Gleichgewicht stehen.
Über die Übergangsstile:
Neben den autochthonen Stilen stehen zunächst alle diejenigen Kunstreiche, die wir als Übergangsstile oder gemischte Stile bezeichnen müssen, weil sie durch den Zusammenfluss zweier oder mehrerer Kulturkreise und deren künstlerischer Ausdrucksformen entstanden sind, die Elemente, die zu ihrer Bildung zusammengetreten sind, noch deutlich erkennen lassen und daher mehr ein Aggregat als eine neue höhere Einheit darstellen.
Über den originalen Kunststil:
Als höchste Erscheinung zeigt uns die Stilgeschichte das, was man den originalen Kunststil nennen kann, im Gegensatze zum autochthonen Stil – ein Wort, mit welchem bezeichnet werden möge, dass ein Kunststil nicht ohne Berührung mit mannigfaltigen Kunstformen und ohne die Basis seiner vorausgehenden Kunstübung erwachsen kann, dass er aber als “originaler” alle diese Elemente seiner Bildung selbständig aufnimmt, mit Feinheit umgestaltet und einer eigenartigen formalen Grundanschauung nicht angliedert, sondern anpasst und unterwirft.
Als originale Kunststile müssen wir in der bisherigen Stilgeschichte das hellenische Kunstreich, das gotische Kunstreich und die Kunst des Islam betrachten.
Weitere Informationen:
Stil-Epochen – Eine BR-Alpha-Reihe (Podcasts)
Friedrich Jodl und das Erbe der Aufklärung.