Es gibt keine politischen Zuweisungen mehr, da es nicht einmal mehr einen der klassischen Definition entsprechenden sozialen Referenten (wie etwa ein Volk, eine Klasse, ein Proletariat oder objektive Bedingungen) gibt, der in der Lage wäre, wirksamen politischen Zeichen Kraft zu verleihen. Es ist schlicht und einfach kein soziales Signifikat mehr da, das einem politischen Signifikanten Kraft geben könnte.
Der einzige noch funktionierende Referent ist der der schweigenden Mehrheit. Alle derzeitigen Systeme funktionieren auf der Grundlage dieser nebulösen Einheit, auf der Grundlage dieser schwimmenden Substanz, deren Existenz keine soziale, sondern eine statistische ist und die nur durch Sondierung sichtbar wird. Eine Simulation am Horizont des Sozialen, oder vielmehr an jenem Horizont, von dem das Soziale verschwunden ist.
Dass die schweigenden Mehrheiten (oder Massen) ein imaginärer Referent sind, heisst noch lange nicht, dass es sie nicht gäbe. Es heisst nur, dass von ihnen keine Repräsentation mehr möglich ist. Die Massen sind kein Referent mehr, weil sie der Ordnung der Repräsentation nicht mehr angehören. Sie drücken sich nicht aus, sie werden sondiert. Sie denken nicht nach, sie werden getestet. Das Referendum (und die Medien mit ihren gesteuerten Fragen und Antworten sind ein permanentes Referendum) ist an die Stelle des Referenten getreten. Nun sind aber die Sondierungen, die Tests, die Referenden und die Medien samt und sonders Einrichtungen, die keiner repräsentativen, sondern einer simulativen Dimension entstammen. Sie zielen nicht auf einen Referenten, sondern auf ein Modell.
Quelle: Die schweigende Mehrheit, Freibeuter Februar 1999