Der Ausdruck “kulturelle Evolution” behagt mir nicht, weil die Ähnlichkeiten zwischen kultureller Veränderung und biologischer Evolution weitaus unbedeutender sind als die Unterschiede. Diese fallen viel stärker ins Gewicht, weshalb es irreführend wäre, den kulturellen Prozess mit dem natürlichen Prozess im Sinne Darwins zu assoziieren. Ich will das anhand zweier Beispiele verdeutlichen: Erstens: Alles, was wir erlernen, bringen wir sogleich der nächsten Generation bei – wie geben an sie jene Eigenschaften und Fertigkeiten weiter, die wir selbst erworben haben. Die biologische Evolution hingegen weist kein derartiges Prinzip auf: An die Nachkommen werden ausschließlich Gene vererbt, die völlig unberührt bleiben von lehrreichen Erfahrungen und nützlichen Taten. Zweitens: Die vom Menschen verursachte kulturelle Veränderung resultiert aus dem Zusammenwirken verschiedener Traditionen – auf diese Weise gelangte etwa das Rad von der einen Kultur in die andere. Genau das kann in der biologischen Evolution nicht geschehen; sobald sich eine Gattung abspaltet, behält sie die einmal eingeschlagene Richtung für alle Zeit bei. Sie unterhält zwar auch danach ökologische Wechselbeziehungen zu anderen Gattungen, aber eine genetische Verschmelzung findet nicht mehr statt.

Quelle: “Die Naturgeschichte kennt keinen Fortschritt”. Stephen Jay Gould im Gespräch mit Constantin von Barloewen. FR, 24.04.2001