Von Ralf Keuper

 
Mit seinem Buch Wo gute Ideen herkommen liefert Stephen Johnson eine kleine und ausgesprochen lesenswerte Kulturgeschichte der Innovation. 
Den Beginn macht Charles Darwin, einer der größten Innovatoren der Wissenschaft. Johnson schildert die Expedition Darwins, die ihn auf zwei kleine Atolle im indischen Ozean führte. Dort faszinierten ihn die Korallenriffe mit ihrem ausgeklügelten Ökosystem. In einer ansonsten unwirtlichen Umgebung, herrscht im Korallenriff eine Artenvielfalt, die in dieser Ausprägung in keinem anderen Ökosystem zu finden ist. Obwohl Korallen von schwacher physischer Konstitution sind und das Wasser der Atolle nährstoffarm ist, gelingt es ihnen nicht nur sich zu behaupten, sondern noch dazu eine Umgebung zu schaffen, die es auch anderen Lebewesen und Organismen ermöglicht, dort zu überleben. Erklärung dafür ist, dass in den Korallenriffen organische Kräfte wirken, die die Kalziumkarbonatatome aus den Bruchstücken trennen und zu neuen, symmetrischen Strukturen verbinden. Ähnlich wie Horst Bredekamp in seinem Buch Darwins Korallen verwendet Johnson die Koralle als Metapher für die Evolution (Vgl. dazu Darwins Koralle als Metapher der Evolution . Immer wieder kommt er darauf zurück.
 
Korallenriffe stehen stellvertretend für alle Lebewesen und auch von Menschen geschaffene Organisationen bzw. Artefakte, die unhierarchisch geliedert oder äußerst anpassungsfähig sind, wie z.B. das Internet.
 
Musste man in früheren Zeiten in Großstädten oder besser noch Metropolen zu Hause sein, um vom Ideenfluss profitieren zu können, wie es Georg Simmel in Die Großstädte und das Geistesleben geschildert hat, nimmt diese Rolle heute das Internet ein. Das Internet verleitet die Nutzer im besten Sinne zu dem, was in der Fachsprache als Serendipidität bezeichnet wird, d.h. es führt einen zu Zufallsfunden, die man ursprünglich nicht gesucht hatte, sich aber als ausgesprochen nützlich erweisen. Ein weiteres Stichwort ist die Exaptation, ein Begriff der von Stephen Jay Gould und Elisabeth Vrba in die Diskussion geworfen wurde. Demnach gibt es Funktionen bei Lebewesen, für die in der aktuellen Situation kein Bedarf besteht, also eigentlich überflüssig sind, sich aber später, bei veränderten Umweltbedingungen, als äußerst hilfreich erweisen. Guy Kawasaki machte einmal darauf aufmerksam, ebenfalls unter Verweis auf Stephen Jay Gould, dass es bei Produkten Eigenschaften gibt, deren Wert sich häufig erst beim Gebrauch zeigt, indem Kunden auf einmal ganz andere Verwendungsmöglichkeiten für Features finden, als ursprünglich geplant.
 
Trotz des großen Spielraums, der durch die unzähligen Kombinationsmöglichkeiten zur Verfügung steht, sind die Möglichkeiten zur Umsetzung begrenzt. Viele Faktoren müssen zusammentreffen, damit eine Idee sich in der Praxis verwirklichen lässt. Die Geschichte ist voll von Beispielen genialer Forscher und Erfinder, die ihrer Zeit zu weit voraus waren. Insofern ist es auch in den seltensten Fällen die geniale Einzelperson, sondern fast immer ein Kollektiv, das für Verbreitung von Ideen und Produkten verantwortlich ist. Johnson spricht vom Nächstmöglichen – eine Wortschöpfung des Wissenschaftlers Stuart Kaufman.
 
Großen Raum nimmt auch die Metapher der Plattform ein. Auch hier ist das Vorbild das Korallenriff, das auf die Begriffswelt des Internet übertragen wird. Vorläufer des Internets waren u.a. die Kaffeehäuser, als Treffpunkt der Künstler und Intellektuellen. Hier konnten Ideen auf kleinem Raum frei und ungehindert zirkulieren. 
 
Außerordentlich günstig für das Entstehen und die Verbreitung von Innovationen ist es, wenn Informationen aus völlig anderen Kontexten und Systemen verfügbar werden, wie durch den Einsatz neuer Technologien. Der Innovationsforscher Richard Ogle spricht in dem Zusammenhang auch von “Ideenräumen”. Anders als häufig noch angenommen wird, sind für Innovationen sog. “schwache Bindungen” besonders wichtig. Ein Phänomen, das einer der Väter der Sozialen Netzwerkanalyse (SNA), Mark Granovetter, bereits in den 70er Jahren beobachtet hat. 
 
Insofern ist es nicht verwunderlich, wenn die produktivsten Plattformen aus mehreren Schichten bestehen. Als Beispiel nennt Johnson das World Wide Web, das Tim Berners Lee durch die Kombination vorhandener Standards und offener Protokolle ins Leben rief. 
Ein besonders gelungenes Beispiel offener Plattformen ist für Johnson der soziale Netzwerkdienst Twitter. Revolutionär war der Ansatz, zuerst eine offene Plattform zu schaffen und dann erst in die Breite, in die Anwendung zu gehen.  
 
Zum Schluss fordert Johnson den Leser dazu auf, sich ein eigenes Riff zu schaffen, um aus dem Fluss der Ideen schöpfen und selbst etwas hinzufügen zu können. 
 
Kein schlechter Rat.

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