Die wichtigste Errungenschaft der 68er-Bewegung in Deutschland bleibt, dass sie massenhaft – und vielleicht für immer – mit der Kultur des Gehorsams gebrochen hat. Ihre größte Sünde war, dass ihre Anführer nach einem basisdemokratischen und freiheitlichen Aufbruch am Ende einer im Kern antidemokratischen Doktrin erlagen und vor den Verbrechen ihrer revolutionären Vorbilder – in Kuba, Vietnam, in Kambodscha und in China – die Augen schlossen. Ich glaube nicht, dass sich der spezifisch deutsche Wahn einer Weltrevolution unter der Rubrik „notwendige Kosten“ abbuchen und rechtfertigen lässt. Aber ich würde lügen, wenn ich nicht hinzufügte, dass es ohne eine gewisse Portion Wahnsinn und Selbstüberhebung diese Rebellion nicht gegeben hätte. Ohne Wahn keine Rebellion.
Man kann der Gesellschaft und uns nur dazu gratulieren, dass wir nie eine reale Chance hatten, die Macht zu ergreifen. Zum Glück haben die neuen Lebens- und Kommunikationsformen, die die Bewegung sozusagen nebenbei und hinter dem Rücken ihrer Ideologen hervorbrachte, eine unendlich folgenreichere Ansteckungsgefahr bewiesen als die bombastischen Programme ihrer Wortführer. Aus dem Zusammenstoss einer importieren, personell mit dem Nazireich tief verstrickten und nur formal existierenden Demokratie mit einer radikalen, am Ende ins Totalitäre überschwappenden Protestbewegung ist die bei weitem lebendigste zivile Gesellschaft in der Geschichte Deutschlands entstanden.
Quelle: Rebellion und Wahn. Mein ’68