Von Ralf Keuper

Trotz wachsender technologischer und wissenschaftlicher Fertigkeiten, sind Prognosen ein heikles Unterfangen. Nicht selten stellt sich schon unmittelbar nach der Abgabe heraus, dass die der Prognose zugrunde liegenden Annahmen falsch bzw. zu optimistisch/pessimistisch waren. Erinnert sei nur an die Prognosen der Wirtschaftsforschungsinstitute zum Wirtschaftswachstum.

Mit der ihm eigenen Ironie fasste Winston Churchill das Dilemma in die Worte:

Prognosen sind schwierig, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen.

Oder auch:

Der sicherste Zeitpunkt für eine Prognose ist kurz nach dem Ereignis.

Folgt daraus nun, dass die Beschäftigung mit Prognosen überflüssig ist?

Nicht ganz.

In seinem Aufsatz Die unbekannte Zukunft und die Kunst der Prognose aus dem Buch Zeitschichten zeigt der Geschichtstheoretiker Reinhard Koselleck, dass es durchaus möglich ist, aus der Vergangenheit Rückschlüsse für die Zukunft zu ziehen, ohne dabei dem Glauben zu verfallen, die Geschichte verlaufe linear oder wiederhole sich lediglich. Letzteres wurde von Karl Popper als Elend des Historizismus gegeißelt.

Koselleck wählt folgenden Ansatz:

Prognosen sind nur möglich, weil es formale Strukturen in der Geschichte gibt, die sich wiederholen, auch wenn ihr konkreter Inhalt jeweils einmalig und für die Betroffenen überraschend bleibt. Ohne Konstanten verschiedener Dauerhaftigkeit im Faktorenbündel kommender Ereignisse wäre es unmöglich, überhaupt etwas vorauszusagen.

Als Beispiele für jene Konstanten nennt Koselleck geografische Bedingungen, die sich nur sehr langsam ändern, rechtliche und institutionelle Bedingungen, die sich ebenfalls nur über einen längeren Zeitraum verändern und die Verhaltensweisen und Mentalitäten der Menschen, die sich gleichfalls nur langsam wandeln. Auch politische Machtkonstellationen sind von Natur dauerhafter als viele Revolutionäre wahrhaben wollen.

Die einschneidendsten Veränderungen gehen laut Koselleck von Geschehensabläufen aus, in die eine Fülle von Faktoren eingehen bzw. in die mehrere Zeitschichten gleichzeitig hineinreichen, wie z.B. in Folge ökonomischer Krisen oder Kriegsereignisse. Hier kommen transpersonale Rahmenbedingungen zum Tragen, die in der Lage sind, die Rahmenbedingungen selbst zu verändern, wie die Industrialisierung im 20. Jahrhundert oder, auf die heutige Zeit bezogen, die Informationsgesellschaft. Für Koselleck sind Voraussagen um so zutreffender, je mehr zeitliche Schichten möglicher Wiederholung in die Prognose eingegangen sind.

Als Prognoseinstrumente weitgehend bewährt haben sich aus dem Bereich der Wirtschaft und Technologie u.a. das Mooresche Gesetz, der Netzwerkeffekt und die Diffusionstheorie. Steven Johnson berichtet in seinem Buch Wo gute Ideen herkommen von der 10/10-Regel aus der Unterhaltungselektronik, wonach es zehn Jahre braucht, um einen Standard, eine Plattform zu etablieren und weitere zehn, um ein breites Publikum zu finden. Bespiele sind der DVD-Player, HDTV und der Desktop-Computer. Mittlerweile hat sich das Verhältnis laut Johnson auf 1/1 reduziert, d.h. es braucht in bestimmten Bereichen nur noch ein Jahr um einen Standard zu entwickeln und ein weiteres, um ein ein größeres Publikum zu erreichen. Als Beispiel nennt Johnson Youtube.

Dank Big Data scheinen sich für viele die Versprechungen der Predictive Analytics zu erfüllen. Allerdings wächst die Zahl der Daten-Skeptiker. Mehr Daten bedeutet nicht zwangsläufig bessere Prognose. Häufig ist es sogar so, dass mit der Zahl der Daten oder Informationen ab einem bestimmten Punkt die Treffgenauigkeit nachlässt, u.a. wegen des Phänomens des Overfitting.
Weiterhin erfreut sich das Uplift-Modell in einigen Unternehmen und bei politischen Parteien großer Beliebtheit. Wie bei jedem Modell, lauern jedoch auch hier Modellrisiken. Manche Prognosen können auch manipulativ wirken, wie das Phänomen der Selbsterfüllenden Prophezeiung zeigt. In etwa in dieselbe Kategorie gehört der Halo-Effekt, der in der Wirtschaft vor allem unter Begriff der Erfolgsfaktoren Einzug gehalten hat.

Einen interessanten Ansatz lieferte vor Jahren Friedrich Cramer mit seinem Zeitbaum. Darin vertritt er eine prozessuale Sicht der Zeit. Strukturen sind demnach gebremste Zeit. Zu einem bestimmten Zeitpunkt wechselt ein nichtlineares System in einen anderen Zeitmodus. Es kommt zu einer Verzweigung, Bifurkation.

Das lässt sich m.E. gut mit den Zeitschichten von Koselleck kombinieren. Prognosen mit 100%iger Treffsicherheit sind aber auch damit nicht möglich.

Weitere Informationen:

Sind falsche Prognosen gut?

Ist es nicht anmassend, wenn ein Trendforscher die Zukunft voraussehen will? David Bosshart ist im Jahresendgespräch mit der NZZ anderer Meinung. Er prognostiziert grosse digitale Umwälzungen und sieht China besonders gut gerüstet dafür.

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