Seit dem Mittelalter hatten die Deutschen, als Nation, ihr Gewicht gegenüber anderen Nationen nie völlig eingesetzt. Teils, weil sie durch ihnen fremde diplomatische Künste paralysiert wurden, teils, weil ihre eigenen Regenten sie zu mäßigen verstanden. Das zweite, nicht das erste, wollte Gentz. Ein deutscher Politiker musste für ihn zugleich ein europäischer sein, verantwortlich für die Freiheit Europas von jeder, auch von deutscher Überzeugung. Ein solcher Politiker war er selber, seiner Überzeugung und seinem Typ nach. In seiner Bildung, seiner Sprache selbst mischten sich deutsche und westliche Elemente. Wie aber, wenn die Deutschen diese übernationale Mäßigung nun plötzlich als Hochverrat empfanden? Wenn sie so „deutsch“ wurden, wie Louis XIV. französisch gewesen war, und das, was Napoleon mit ihnen gemacht hatte, bei besserer Erfolgschance mit Europa zu machen begannen? Wenn die brutale Begeisterung für das, was sie selber waren, an Stelle der europäischen Bildung trat? Wenn sie ihren Angriff auf die bestehende Ordnung noch obendrein mit der Sache der Demokratie, des Selbstbestimmungsrechts der Völker zu verbinden täuschend vorgaben?
Quelle: Golo Mann: Friedrich von Gentz. Gegenspieler Napoleons – Vordenker Europas